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Ebensowenig lässt es sich hier bestimmen, ob auch in
der Architektur die Proportionssysteme aus Aegypten
stammen.
Es ist für uns schwer, uns mit unsern modernen
Begriffen und Empfindungen vorzustellen, wie denn die
taktische Schönheit und die Symmetrie wirkte und empfunden
wurde, wie man richtige Verhältnisse auf den
ersten Blick von falschen unterscheiden konnte. Wir
müssen uns, um dieses zu begreifen, der Kunst, welche
in unsern Tagen noch am meisten nach diesem System
komponiert wird, zuwenden.
Stellen wir uns vor, dass in irgend einer Weise
unsere jetzige musikalische Empfindung verloren ginge,
so würde man sich nach ein paar Jahrhunderten unmöglich
mehr vorstellen können, dass, während eine
große Anzahl verschiedener Instrumente sehr verschiedene
und nur durch ein gewisses Verhältnis zusammenhängende
Töne spielten, man mit absoluter Genauigkeit
erstens die Reinheit der Töne konstatieren, zweitens das
musikalische Kunstwerk in seiner ganzen Zusammensetzung
genießen konnte und drittens noch die in dem
Kunstwerk enthaltenen Gedanken begriff. Ungefähr so
stehen wir der antiken Kunst gegenüber, unser Auge hat
die Fälligkeit, symmetria und eurythmia zu empfinden,
fast ganz verloren, in schönen Zahlen auszudrückende
schöne Verhältnisse verstehen wir in der Baukunst und
in der bildenden Kunst nicht mehr zu genießen und, was
wir heute an Tempeln und Statuen schön nennen, bildet
nur einen geringen Teil von dem, was die Zeit der
taktischen Aesthetik hineingelegt hat.
Hierfür liefert Vitruvs theoretisches Kapitel den
Beweis.
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