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Vieles Schiefe in der Auffassungsweise hängt auch davon ab, dass der Forscher ein zu beschränktes Gebiet
bearbeitet. Durch Ueberschauung und mehr allseitige Durchmusterung der den Gegenstand berührenden Felder
gewinnt er eine unbefangenere und sicherere Auffassung. Wie oft kommt es nicht vor, dass er nach Beendigung einer
Untersuchung und dem Uebergang zu einem angrenzenden Gebiete erst dort findet, dass er eine schiefe Anschauung
erhalten hat und das erste Feld von einem neuen Gesichtspunkte aus bearbeiten muss.
Diese Auffassung war es, welche uns veranlasst hat, ein grösseres Gebiet zu überblicken und möglichst genau
zu durchforschen. Eben darin liegt, unserer Meinung nach, ein Hauptverdienst der vorliegenden Arbeit. Zwar ist
es ohne Zweifel viel angenehmer, auf einem Felde nur die zuerst und am leichtesten zu gewinnenden Früchte zu
pflücken. Nicht selten erhalten wir die besten eben am Anfang der Untersuchung, während die übrigen unsern
Bemühungen oft hartnäckig widerstehen. Jedenfalls erfordert eine solche eingehendere Ausführung viel Mühe und
Geduld, und eigentlich wird doch nie etwas in dieser Hinsicht beendigt; immer bleiben hie und da jene ärgerlichen
Zweifel und Fragezeichen zurück. Wie weit, lässt sich aber fragen, sollte nun der Forscher im bezüglichen Falle
seine Versuche fortsetzen? Nach unserer Ansicht, im Allgemeinen so weit als es möglich ist, mit den ihm zu Gebote
stellenden Hülfsmitteln — Instrumenten und Methoden — vorzudringen. Dann soll er ehrlich das wirklich Gefundene
und das Zweifelhafte genau trennen und das Letztere nie verhehlen. Die ihm ärgerlichen Fragezeichen sind ja eben
die Anreger kommender Forschungen.
Es sind somit einige der Prinzipien angedeutet worden, nach welchen wir versucht haben zu arbeiten; in
wie weit es uns gelungen ist, denselben immer treu zu bleiben, wollen wir nicht selbst beurtheilen.
Noch ein Umstand dürfte aber hier zu berücksichtigen sein. Wir meinen die Behandlung des geschichtlichen
Theils der betreffenden Fragen. Vielleicht scheint es dem Einen oder Anderen, dass wir in dieser Hinsicht eine zu
grosse Ausführlichkeit angewandt haben. Eingehende Studien der bezüglichen anatomischen Literatur haben uns
indessen gelehrt, dass schöne Beobachtungen aus der vergangenen Zeit oft von einer späteren wenig berücksichtigt
oder ganz vergessen worden sind. Meist hat dies wohl darin seinen Grund, dass die bezüglichen Untersuchungen
zui* Zeit ihres Hervortretens zu geringe geschätzt oder wohl gar nicht verstanden wurden. Nicht selten sind ja
Entdeckungen gemacht, die ein verflossenes Zeitalter schon für sich in Anspruch nehmen darf. Es erschien uns
deswegen mehr und mehr als Pflicht die betreffende Literatur sorgfältig durchzugehen, die Entdeckungen und
Beobachtungen Anderer der Vergessenheit zu entziehen und im Allgemeinen das Verdienst eines Jeden so unparteiisch
als möglich anzuerkennen. Deswegen haben wir in der vorliegenden ersten Hälfte unserer Arbeit zuerst eine allgemeine
Uebersicht der bisherigen Angaben betreffs der Häute und der serösen Räume der nervösen Centraiorgane
sowie- der damit zusammenhängenden Fragen der Zeitfolge nach geliefert und dann jeder einzelnen Abtheilung einen
kurzen historischen Rückblick voran geschickt. In der zweiten Hälfte werden wir denselben Principien folgen.
Es ist in der Geschichte der Wissenschaft kein seltenes Vorkommniss, dass dieselbe Entdeckung gleichzeitig von
verschiedenen Forschern und doch unabhängig von einander gemacht wird. Es scheint ja oft, als ob die Entdeckungen,
wenn die nöthigen Vorarbeiten ausgeführt sind, gewissermassen von selbst hervortreten. Während so langwieriger und
brennende Fragen betreffender Arbeiten wie die unsrigen ist dies »gleichzeitige Hervortreten» natürlicherweise mehrmals
eingetroffen. Wir werden bezüglich dieser Verhältnisse, unseren Prinzipien gemäss, uns nie auf Prioritätsstreitigkeiten
einlassen, durch welche die Wissenschaft nichts gewinnt, und haben uns deswegen darauf beschränkt,
in der geschichtlichen Einleitung über das von uns in einigen vorläufigen Abhandlungen ebenso wie über das von
Anderen Veröffentlichte der Zeitfolge nach einfach zu referiren. Wir haben uns consequent Controversen ferngehalten
, indem wir soviel als möglich wörtlich die Ansichten eines jeden Verfassers anführten und dann in besonderen
Abschnitten unsere eigenen Untersuchungen und Anschauungen mittheilten.
Es schien uns vom Anfang unserer Arbeiten an, dass ein sehr wichtiges Erforderniss für den Aufschwung
der Histologie die Herstellung möglichst getreuer Abbildungen sei. Zwar hängt der Fortschritt dieser wie anderer
Wissenschaften grösstentheils von der Erfindung guter Forschungsmethoden ab. Die Befestigung der durch diese
Methoden zu gewinnenden Resultate beruht aber unserer Meinung nach in vorzüglichem Grade auf sorgfältig ausgeführten
und hinreichend zahlreichen Abbildungen. In dieser Hinsicht haben wir deswegen weder Mühe noch
Opfer gespart. Nur wer es versucht hat, eine grössere Reihe von getreuen histologischen Abbildungen zu liefern,
kennt indessen alle die Schwierigkeiten, welche sich einer solchen Arbeit entgegenstellen. Es reicht nicht hin,
durch umfassende Untersuchungen sich eine eigene Ueberzeugung zu verschaffen; man muss auch möglichst gute
und den in die betreffende Wissenschaft uneingeweihten Zeichnern deutliche Präparate vorlegen; dies kostet nicht
selten unverhältnissmässig viel Zeit. Dann aber muss man immerfort die Ausführung dirigiren und controlliren.
Wenn man endlich eine die Natur möglichst genau wiedergebende Zeichnung erhalten hat, muss sie für das Graviren
einem anderen Artisten, der nicht einmal die betreffenden Präparate gesehen hat, übergeben werden; wie viel hängt
dann nicht von seiner Auffassung und seinem Feingefühl ab, dass das Endresultat i rklich dem Bilde entspricht,
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