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Zu diesen Zusammenflüssen konnte man noch die kleinen flüssigen Massen rechnen, welche das Ganglion des
fünften Paares rechts und links umgeben. Diess wären dann die seitlichen Zusammenflüsse.
Aber auch die Gehirnhöhlen enthalten immer Flüssigkeit, und diese steht in offerier Verbindung mit der an
der Oberfläche des Gehirns und Rückenmarks. Magendie, der die Existenz des Bichat'schen Canales ganz bestreitet,
fand dagegen eine, wie er sagt, wahre, constante und normale Oeffnung, durch welche die Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit
stets geht, um sowohl in als aus dem Ventrikel zu fliessen, und diese befindet sich am unteren Ende des
vierten Ventrikels an dem Punkte, welchen die älteren Anatomen den Calamus scriptorius nannten. Um sich von
der Existenz dieser Oeffnung zu überzeugen, braucht man nur die Lappen des Processus vermiformis inferior des
kleinen Gehirns etwas in die Höhe zu heben und aus einander zu ziehen. Ohne eine der Gefässverwachsungen
dieser Kleinhirnpartie mit der Pia mater spinalis zu zerreissen, bemerkt man dann den wirkligen Ausschnitt, in den
der vierte Ventrikel endigt. Seine Oberfläche ist glatt, eben und verlängert sich bis in den Ventrikel des kleinen
Gehirns. Diess ist der vordere Theil der Oeffnung; die seitlichen und obern Theile werden vom Plexus choroideus
und einer Marklamelle (von Magendie unrichtig Valvula Tarini benannt) gebildet, deren Ausbreitung mehr oder
minder bedeutend ist, und die mit der seitlichen und hervorragenden Peripherie des vierten Ventrikels verwachsen ist.
Die Gestalt und die Grösse der Oeffnung ist bei den einzelnen Individuen und je nach der Quantität der Hirn- und
Rückenmarksflüssigkeit verschieden; zuweilen so gross, dass sie die Fingerspitze aufnehmen kann, wenn sehr viel von
dieser Flüssigkeit vorhanden ist. Meist und bei normaler Quantität der Flüssigkeit hält die Oeffnung nur 2—3 Linien
nach jeder Richtung hin im Durchmesser und wird auch häufig durch Gefässe, die von der Meclulla oblongata zum
kleinen Gehirn gehen, in mehre Abtheilungen getheilt. Zuweilen ist sie durch eine oder beide Arterise cerebelli
posteriores verengert, die vor ihr hergehen. Magendie nannte diese Oeffnung die (gemeinsame) »Mündung der
Gehirnhöhlen» (Orifice des cavites encephaliques). Injectionen von Wasser oder andern Flüssigkeiten, die man
durch die Wirbelsäule in den Raum unter der Arachnoidea treibt, dringen stets bis in die Seitenventrikel, nämlich
vom vierten Ventrikel durch den Aquaeductus Sylvii in den dritten Ventrikel und von da weiter durch die Foramina
Monroi, welche Magendie »Mündungen der grossen Gehirnhöhlen» (Orifices des grandes cavites cerebrales) zu benennen
vorschlug, in die beiden Seitenventrikel.
In sehr seltenen Fällen wurde die Oeffnung von einer Membran geschlossen gefunden. Magendie fand
bei seinen zahlreichen Sectionen ein solches Verhalten nur zwei Mal, und dies bei älteren Individuen. Er hält das
verschliessende Häutchen für eine krankhafte Neubildung. In beiden Fällen fand sieh eine abnorme Menge von
Flüssigkeit in den Ventrikeln, und beide Individuen waren während des Lebens geisteskrank gewesen. Noch einen
Fall erzählt Magendie nach Martin Saint-Ange; dieser betraf ein achtjähriges Kind, welches während des Lebens
schwere Cerebralsymptome gezeigt hatte; bei der Section fand sich die Oeffnung durch eine ziemlich resistente
undurchsichtige und flockige Membran verschlossen, und die Ventrikel waren von vieler Flüssigkeit erfüllt. Ob in
diesen Fällen die vermehrte Flüssigkeitansammlung von der Verschliessung der betreffenden Oeffnung verursacht
wäre, lässt Magendie unentschieden. Zuweilen, in gewissen krankhaften Fällen, wo die Flüssigkeit sehr vermehrt
ist, kann die Oeffnung drei bis viermal grösser sein als im Normalzustand. Betreffs der Secretion der Flüssigkeit
hält Magendie es für wahrscheinlich, dass sie aus den Blutgefässen der Pia ausgeschwitzt wird. Nach Entleerung
ersetzt sie sich schnell. Sie hat einen positiven Druck (grösser während der Exspiration); sie bewegt sich während
der Respiration (wird während der Inspiration aspirirt, während der Exspiration zurückgestossen).
Um diese Bewegungen der Cerebrospinalflüssigkeit experimentel darzulegen, befestigte Magendie bei einem
lebenden Thier (Hund oder Ziege?) in der Subarachnoidalhöhle hinter dem Hinterhaupt eine 3—4 Decimeter hohe
und einige Millimeter im Durchmesser haltende Glasröhre, die etwas gefärbtes Wasser enthielt. Bei jeder In- und
Exspirationsbewegung stieg und fiel das Wasser. Um sich zu überzeugen, dass sich diese Ebbe und Fluth weithin
in die Subarachnoidalhöhle erstrecken, wendete er statt der Glasröhre einen mit dunkelgefärbter Flüssigkeit erfüllten
Trichter an. Die Flüssigkeit stieg und fiel, sank aber nach und nach in die Höhle hinein. Wenn er nach dem Tode
des Thieres die Subarachnoidalhöhle untersuchte, fand er die gefärbte Flüssigkeit auf der einen Seite bis zum Sacrum,
auf der anderen Seite auf die Oberfläche des Gehirns bis in die Stirngegend gelangt. Sie war noch dazu in die
vier Ventrikel gedrungen, indem sie sich in das Zell- und Gefässgewebe imbibirt hatte, welches bei den Thieren den
Eintritt in diese Höhlen vollkommen verschliesst. An einer anderen Stelle sagt er, dass bei Injectionen (am Menschen)
die Flüssigkeit in den Ventrikel des kleinen Gehirns zuerst eindringt, ihn dann vollständig erfüllt, seine Wände
aus einander schiebt, die Valvula Vieussenii in die Höhe hebt, dann durch den Aquaeductus Sylvii geht u. s. w.
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