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den Holländern nach Europa gebracht und war
dort bald in Parks und Gärten zu bewundern, so
etwa in Schwetzingen, Mannheim, Heidelberg
und Frankfurt. Der Gingko-Baum ist aber nicht
nur ein „lebendes Fossil", wie ihn Prof. Werner
Bopp vor vielen Jahren in einem Artikel genannt
hat, er spielte auch in Goethes Leben und Dichtung
eine wichtige Rolle.
Goethe war im Sommer 1815 zur Kur in Wiesbaden
. Nach Beendigung derselben fuhr er in
Begleitung von Boisseree nach Frankfurt, um
dort Marianne von Willemer, mit der ihn eine
tiefe Zuneigung verband, zu besuchen. Die Gespräche
in diesem Kreis drehten sich häufig um
Goethes Lieblingsthema: Das Leben im Wechselspiel
von Expansion und Konzentration, im
Rhythmus von Polarität und Vereinigung. In
diesem Zusammenhang ist auch zum erstenmal
vom Gingko-Blatt die Rede. „Wir saßen", so
notiert Boisseree am Abend des 15. September
in sein Tagebuch, „in der schönen warmen
Abendluft auf dem Balkon. Goethe hatte der
Willemer ein Blatt des Gingko biloba als Sinnbild
der Freundschaft geschickt aus der Stadt.
Man weiß nicht, ob es eins, das sich in zwei teilt,
oder zwei, die sich in eins verbinden. So war der
Inhalt des Verses". Man darf daraus schließen,
daß Goethe kurz zuvor in Frankfurt oder Heidelberg
einen Gingko-Baum gesehen hatte und
sogleich von der merkwürdigen Blattform fasziniert
war. Diese Inhaltsangabe entspricht im
übrigen ziemlich genau der mittleren Strophe
des endgültigen Gedichts. Einige Tage danach
entdeckt er beim Spaziergang mit Marianne im
Schloßgarten von Heidelberg erneut einen
Gingko-Baum. Hier erst, wo seine Gespräche
um die Symbolhaftigkeit von Erscheinungen des
Lebens kreisen, fügt er dem Frankfurter Vers
zwei weitere hinzu und macht dadurch das
Gingko-Blatt zu einem Symbol der Liebe. Das
fertige Gedicht schickt er am Tag nach dem
endgültigen Abschied Mariannes zwar deren
Stieftochter Rosette, aber bestimmt war es zweifellos
für die Mutter. Goethe hat Marianne danach
nie wieder gesehen. Dennoch oder vielleicht
gerade deshalb bleiben beiden die gemeinsamen
Heidelberger Tage in lebendiger
Erinnerung. In einem ihrer letzten Briefe an
Goethe, kurz vor dessen Tod im Jahre 1832,
kommt sie noch einmal auf Heidelberg und den
Gingko-Baum zu sprechen: „Wie vieles hätte
ich... zu erzählen, wenn ich Ihnen gegenüber
säße... vor allem würde ich sagen, daß ich
diesen Herbst in Heidelberg war, wie es einer
andächtigen Pilgerin geziemt, die durch Freud
und Leid geweihten Orte alle besucht habe, ein
Blatt vom bekannten Gingko biloba zu mir
steckte...". Und lange nach Goethes Tod, Ende
1860, zieht es Marianne von Willemer als Greisin
von 76 Jahren nochmals nach Heidelberg.
Gerührt bleibt sie im Schloßgarten vor dem
Gingko-Baum stehen und gesteht ihrer Begleiterin
: „Dies ist der Baum, von welchem er mir
damals ein Blatt brachte und schenkte und mir
dann das Gedicht machte und zuschickte." -
Zweig des Gingko-Baumes
Gingko biloba - J.W. Goethe
Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie's den Wissenden erbaut.
Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als eines kennt?
Solche Fragen zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn:
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
daß ich eins und doppelt bin?
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