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nicht. Gegen Abend wandte ich mich der Rheinbrücke
zu; ich fragte mich durch und fand sie
schließlich wieder. Ich war ganz verwirrt von
den unzähligen Straßen, den großen Häusern,
den reichen Schaufenstern und den vielen Menschen
. Ich hätte am liebsten nach Arbeit geschrien
. Die Lichter brannten schon, als ich die
Rheinbrücke erreichte. Sterne standen schon am
Himmel. Ich schaute zu ihm hinauf, Tränen rollten
aus meinen Augen. Ich seufzte ungeachtet
des starken Gedränges auf der Brücke. Die Menschen
huschten an mir wie Gespenster vorbei;
ich kam mir ganz unscheinbar vor. Endlich kam
ich wieder in der Herberge an. Ich fühlte mich
unendlich einsam, verlassen und war der
Verzweiflung nahe. Ich setzte mich an einen
Tisch und sah mir die Gäste an, lauter Handwerker
, alte und junge. Grübelnd und trübselig saß
ich da und machte mir Vorwürfe: Warum bist Du
so weit von der Heimat fortgegangen? Du bist
noch zu jung. Wärst Du doch noch länger bei
Deinem Lehrmeister geblieben! Endlich kam die
Zeit zum Sich-Niederlegen. Diese Zeit wurde
streng eingehalten. Wir mußten zimmerweise
abgehen. Ich erhielt wieder meine Nummer und
das Bett wie die Nacht vorher. Ich betete und
weinte im Stillen, während die anderen scherzten
und fluchten, wovor ich Abscheu empfand.
Trotz großer Müdigkeit konnte ich nicht schlafen
. Die Sorge, wie es weitergehen solle, ließ
mich nicht einschlafen. Mein Geld ging zur Neige
. Lieber wollte ich Hungers sterben als betteln
gehen. Der Gedanke, als Bettler heimgeschickt
zu werden, verursachte mir eine Gänsehaut und
trieb mir den Angstschweiß auf die Stirn. Alle
schliefen noch oder lagen ruhig da, als der Morgen
graute. Allmählich kam die Zeit zum Aufstehen
. Ich stand auf, betete im Stillen, wie ich es
gewohnt war, und ging in die Wirtsstube. Dort
verlangte ich nach meinem Tournister und Wanderbuch
und zahlte das Schlafgeld. Nach und
nach füllten sich wieder die Tische. Nachdenklich
trank ich meine Tasse Kaffee: Was beginnen
und wohin mich wenden? Eine Stunde mag ich,
in düstere Gedanken versunken, so dagesessen
haben. Das Lokal wurde immer leerer. Ich war
am Verzweifeln. Plötzlich kommt ein Mann herein
, setzt sich an einen der leeren Tische und
trinkt ein Glas Wein. Ich beobachtete ihn und
dachte: Das ist kein Handwerksbursche! Auf einmal
kommt der Mann auf mich zu und fragt mich,
ob ich Schreiner sei. Ich bejahte freudig: Er kam
mir vor, wie wenn er vom Himmel gesandt wäre.
Er sagte, er brauche einen weiteren Gesellen.
Ich zog mein Wanderbuch und Zeugnis aus der
Tasche, damit mir ja keiner zuvorkäme, und
übergab es ihm mit der Versicherung, daß ich
mit Freuden bei ihm arbeiten würde. Er gab mir
die Papiere zurück und meinte, ich könne gleich
bei ihm anfangen. Ich fragte nach dem Namen
des Geschäftes und zog ein Büchlein aus der
Tasche, in das er seinen Namen eintrug. Er zahlte
mir ein Glas Bier, weil er sah, daß ich nichts zu
trinken vor mir hatte. Ich wollte gleich aufbrechen
, doch er meinte, ich könne mir Zeit lassen.
Er wohne in Lörrach und habe noch Geschäfte in
der Stadt zu erledigen. Er wohne in der Poststraße
; ich fände den Weg dorthin leicht. Ich gab
ihm die Hand und dankte ihm, was ihn offensichtlich
freute. Ich war überglücklich, denn ich
hatte erfahren dürfen, daß Gott am nächsten ist,
wenn die Not am größten. Der Meister ging
alsbald. Ich trank mein Glas Bier aus, nahm mein
Felleisen auf den Rücken, den Stock in die Hand
und zog durch die Straßen, die ich vor zwei
Tagen hergekommen war, dem Badischen Bahnhof
und der Grenze zu. Ich atmete leichter, als
ich das Häusermeer hinter mir hatte und mich
auf der Poststraße nach Lörrach befand. Die
Eisenbahn ging damals noch nicht nach Lörrach,
sondern bloß der Postwagen. Ich kam durch den
Ort Riehen, welcher noch auf Schweizer Gebiet
lag. Hier ging ich in eine Wirtschaft, trank ein
Glas Bier und wechselte mein Geld um, in Kreuzer
, Groschen und Sechser. Viel hatte ich nicht
mehr. Ich fragte nach der Entfernung von Lörrach
und nach dem großen Gebäude auf dem
Berg in der Nähe. Man sagte mir, es hieße „Chri-
schona", wo Missionare ausgebildet würden. In
der Schule hatte ich von der „Chrischona" gelesen
, daher war mein Interesse nun umso größer.
So weit bist Du nun also von zu Hause weg,
dachte ich bei mir.
Eine schöne Gegend, das Wiesental im Markgräf-
lerland! Am Nachmittag kam ich in Lörrach an:
Ein ebenes, schönes Städtle mit zwei Fabriken
und einigen größeren Werkstätten. Am Eingang
gleich bei der Kirche hinter dem „Bären" war
Meister J. G. Holl zu Hause. Er war ein gebürtiger
Lörracher; die Meisterin dagegen stammte aus
Murten in der Schweiz. Es war am 13. April 1861,
als ich in Lörrach einzog. Ich traf eine gute
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