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höher als in Lörrach, allerdings war das Leben in
der Großstadt auch teurer. Nun lernte ich die
Stadt Basel, ihre Lage, ihren Geschäftsbetrieb
und die sonstigen Verhältnisse genauer kennen.
Am 15. Juni 1863 trat ich in Zürich bei Meister
Franz Krazer in der Großen Brunnengasse beim
„Hirschen" im Niederdorf in Arbeit. Mir war
gesagt worden, daß es eine gute Werkstatt sei.
Mir war auf Grund meines Eindrucks bei der
Vorstellung und meiner Zeugnisse sofort ein
Platz zugesichert worden. Ich mußte aber 8 Tage
warten, bis er frei wurde. Ich hatte nun also Zeit
und Muse, die Stadt zu besichtigen und auf eigene
Rechnung zu privatisieren. Ich logierte solange
im „Hirschen", ganz nahe der Werkstatt. Dann
begann ich mit der Arbeit: Herstellung von polierten
Möbeln im Akkord. Für Kost und Logis
hatte man selbst zu sorgen. Im Niederdorf, ganz
in der Nähe des „Hirschen", fand ich im 5. Stock
ein eigenes Zimmer, das mit Bett, Sofa, Tisch und
3 Stühlen möbliert war. Ich war nun ganz mein
eigener Herr. Ich ging zum Deutschen Arbeiterverein
und ließ mich als Mitglied aufnehmen.
Der Verein hatte ganz in der Nähe ein eigenes
Haus. Seine Mitgliederzahl betrug annähernd
tausend, lauter Handwerker aus allen Teilen
Deutschlands. Der Verein gab Kost für die Mitglieder
, etwa 400 speisten täglich im Vereinshaus
. Es gab einen Verwalter, der nach der Satzung
aus der Mitte der Mitglieder gewählt worden
war, und außerdem zwei Köchinnen, zwei
Mägde und eine Spülerin, alle ledig und deutsch..
Jeden Monat mußte der Verwalter die Bilanz, die
Einnahmen und Ausgaben, den Mitgliedern vortragen
und einen Kassenbericht erstatten. Vorstand
, Verwalter und Kassier wurden jährlich
durch die Mitglieder gewählt. Diese entschieden
auch über ihre Vereinsangelegenheiten selbst,
und zwar nach den Statuten mit einfacher Mehrheit
.
Der Verein hatte eine große Bibliothek von über
1000 Bänden. Aus aller Herren Länder waren
Zeitungen ausgelegt, die vom Verein abonniert
und bezahlt wurden. Ich wurde zusammen mit
einem Stuttgarter nach einem halben Jahr zum
Bibliothekar gewählt. Da ich in der Nähe wohnte
, war ich fast jeden Tag anwesend. Ich widmete
mich ganz dem Verein. Sein Haus war für jeden,
der einen Sinn dafür hatte, eine Art Heimat. Man
konnte dort turnen, es gab Stunden in Gesang,
Technik, Geometrie, Buchführung, Stenographie
, ja sogar Tanzkurse. Das alles war unentgeltlich
nach Feierabend und sonntags. Ich habe
einen Kurs in kaufmännischer Buchführung mit
Wechsellehre, einen Rechenkurs mit Körperberechnungen
und einen Tanzkurs mitgemacht, zu
mehr blieb mir keine Zeit. In diesem Verein habe
ich die Grundlagen für mein späteres Leben
gelegt: Ausbildung auf allen möglichen Gebieten
, auch in der Politik, die damals eine große
Rolle spielte. Jede Woche hielten an zwei Abenden
deutsche Studenten vom Politechnikum im
Vereinssaal politische Vorträge. Auch von den
vertriebenen 48er Freiheitskämpfern aus Baden,
die nach der Schweiz geflüchtet waren, wurden
wir belehrt und angefeuert: Ihr seid die Jugend!
Ihr seid die Hoffnungsträger! Ihr müßt Deutschland
von der Kleinstaaterei erlösen etc.! Ein
einiges Deutschland schwebte uns vor und wurde
besungen, aber nicht unter der Führung Preußens
, sondern Österreichs. Als junger, feuriger
Geist habe ich das alles begierig eingesogen,
nicht ahnend, daß ich später mit Schweiß, Hunger
, Durst, Strapazen und Blut zu der besagten
und besungenen Einheit Deutschlands beitragen
müsse. In diesem kameradschaftlich deutschen
Geist wurde der Verein geleitet, und zwar durch
die besten und tüchtigsten Arbeiter selbst. Ich
hatte hier in der freien Schweiz eine zweite
Heimat gefunden. Wir waren wie Brüder zueinander
. Ich wurde von jedem Mitglied geachtet
und geehrt, denn ich kannte ja jeden durch die
Bücherausgabe mit Namen und war allen gegenüber
freundlich, zuvorkommend und bescheiden
.
Nur zu schnell kam die Rekrutierung in ganz
Württemberg, der 1. März 1865, heran, wo man
sich in seiner Oberamtsstadt zur Musterung stellen
mußte. Jeder, der draußen war, wußte, daß er
eingezogen werde und seiner Pflicht als Staatsbürger
nachzukommen habe, wenn er nicht als
Deserteur verfolgt werden wollte. Drei Tage vor
meiner Abreise war Abschied unter Gesang und
Reden, Scherz und Ernst. Das ging bis nachts 1
Uhr, wo mir jeder zum Abschied die Hand drückte
. Am Morgen, als ich aufbrach, ließen es sich
die Sänger des Vereins nicht nehmen, vor meiner
Wohnung ein Abschiedslied zu singen. Das
ergriff mich derart, daß ich wie ein Kind weinte.
So schwer war mir der Abschied vom Verein und
der Stadt Zürich!
Ich fuhr mit der Bahn über Schaffhausen nach
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