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Im Juni 1855 wurde er zum Vikar des Pfarrers
von Sulgen ernannt mit dem Auftrag, die Filialkirche
in Heiligenbronn zu betreuen und die
dortige Wallfahrt gemäß einem europaweiten
Trend Wiederaufleben zu lassen. Dieser Zweck
seiner Einsetzung erklärt sich leicht aus der
Tatsache, daß die Heiligenbronner nicht gleichzeitig
zu einer Kirchengemeinde zusammengefaßt
wurden.
„Auf dem Sulgen" rieb sich Pfarrer Kapp verblüfft
die Augen. „Ohne weiteres", d. h. ohne sich bei
ihm auch nur vorzustellen, habe sein neuer Vikar
gleich bei seiner Ankunft Gottesdienst gehalten.
Dieses Vorgehen erwähnte bereits die Klosterchronik
, ohne allerdings anzumerken, was dies
zur damaligen Zeit bedeuten mußte, wo ein
Vorgesetzter noch als Respektsperson galt.
Der arme Pfarrer sollte aus dem Staunen nicht
mehr herauskommen. Ohne eigene Mittel machte
sich Fuchs sofort an die Ergänzung der Kirchenausrüstung
, reparierte Gebäude und Orgel,
gründete schon nach zwei Wochen eine Bruderschaft
zur Förderung der Wallfahrt, veranstaltete
mit der Hauptgemeinde ein Tauziehen um Taufen
und Beerdigungen, erkämpfte seiner Filiale
einen eigenen Friedhof und lud eigenmächtig
fremde Priester zu gemeinsamen, ungewöhnlich
feierlichen Wallfahrtsgottesdiensten ein. Wo
Kapp Widerstand leistete, wandte sich Fuchs an
Dekan Binder oder gar ans bischöfliche Ordinariat
, denen der frische Wind ebenso imponieren
mußte wie der unübersehbare Erfolg im Gemeinde
- und Wallfahrtsleben. Fuchs sollte die
formale Erhebung Heiligenbronns zur eigenen
Gemeinde zwar nicht mehr erleben, doch faktisch
war dieser Stand schon bald erreicht.
Die größte Überraschung erlebte Pfarrer Kapp
aber, als er vom bischöflichen Ordinariat um
Stellungnahme zu einer eigentlich schon beschlossenen
und weitgehend vorbereiteten
Gründung eines „Rettungshauses für die verwaisten
und verwahrlosten Kinder des Schwarzwaldes
" in Heiligenbronn gebeten wurde. Resignierend
merkte er an, hier zum ersten Mal von
diesem „großen Vorhaben" zu hören, und wies
nur noch auf die großen Probleme hin, die die
Erstellung eines geeigneten Baues, der Unterhalt
der Kinder usw. mit sich bringen mußten.
Und in der Tat, woher nahm dieser junge Vikar
die Kraft für das erstaunliche Aufbauwerk, das
nun folgte? Wie kam er überhaupt auf die Idee?
Aufgetragen war ihm diese Sache nicht, das zeigen
die Akten recht deutlich.
Fuchs mußte die Not seiner Zeit gesehen haben.
Kriege, wirtschaftliche und soziale Umschichtungen
, ein starkes Bevölkerungswachstum und
Erntekatastrophen hatten in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts landesweit zu Massenarmut
, einigen schrecklichen Hungerjahren und
Auswanderungsschüben gefuhrt. Diese Not war
in den kargen Landstrichen der Mittelgebirge
besonders drückend, dort wiederum mußte es
die hilflosen Kinder am härtesten treffen.
Der Staat hatte zudem die karitativen Leistungen
der in der Säkularisation aufgehobenen Klöster
nur in geringem Umfang übernommen. Die Gemeinden
als zuständige Instanzen beschränkten
sich weitgehend auf polizeiliche Maßnahmen.
Oft wurden einfach Familien verpflichtet, Waisenkinder
reihum einige Zeit zu verköstigen.
Schon das Aufwachsen ohne feste Bezugspersonen
mußte zu Schäden führen, die Behandlung
durch die zwangsverpflichteten, oft selbst notleidenden
Pflegeeltern war sicher nur in Einzelfällen
gut. Flucht in Kinderbanden mit Bettelei
und Diebstahl war an der Tagesordnung.
Von privater Seite gab es bereits vereinzelt neuartige
Initiativen, die Fuchs und anderen als
Vorbild dienen konnten. Das waren in der katholischen
Kirche vor allem die „Barmherzigen
Schwestern" in der Nachfolge des heiligen Vinzenz
von Paul, die in der Folge der napoleonischen
Eroberungen ihre hilfreiche Tätigkeit aus
ihrem Mutterland Frankreich auch auf Teile
Deutschlands ausgedehnt hatten. Von ihnen
übernahm Fuchs das Prinzip des freiwilligen
Einsatzes junger Frauen und deren genossenschaftliche
Organisationsform, die noch heute
der klösterlichen Gemeinschaft Heiligenbronns
zugrunde liegt.
In der Schweiz hatte Pestalozzi neue Maßstäbe
der Jugendfürsorge gesteckt, sein Freund Zeller
hatte im badischen Beuggen eine Musteranstalt
gegründet und der Pietismus mit der Gründung
einer Reihe von „Rettungshäüsern" in Württemberg
den wichtigsten Beitrag zur Linderung der
Not geleistet.
Das alles erklärt aber noch nicht, warum ein
David Fuchs tätig wurde, viele seiner Zeitgenossen
aber nicht.
Ein Motiv für seinen sozialen Einsatz, das aus
zeitgebundener Rücksicht lange unbeachtet ge-
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