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meine Bücher bekam ich dutzendweise Zuschriften
von alten Bekannten aus allen meinen
Lebensschichten und jedesmal freue ich
55 mich darüber und denke, auch er lebt noch.
Im übrigen ist meine Gesinnung dieselbe geblieben
und ich bin sehr froh, dass mein
Dickschädel die Oberhand behielt. Freilich,
der Krieg hat mir über vieles die Augen geöff-
60 net und ich bin zum Schluss gekommen, daß
jeder Mensch eine Welt für sich darstellt, dass
die formenden Kräfte in uns selbst liegen und
alle Religionen und politischen Systeme sind
nur dann gut, wenn sie diese Kräfte anerken-
65 nen und sich als ihre Diener empfinden.
Es freut mich, dass es Ihnen und Ihrer Familie
ebenfalls gut geht und wünsche mit Ihnen,
dass wir endlich nach den Jahren der Wirrnis
wieder eine Zeit der Ruhe für die innere
70 Besinnung erleben mögen.
In diesem Sinne grüße ich Sie u. Ihre Familie
recht herzlich
Ihr Vinzenz Erath."7)
Eraths Antwort ist - wie eigentlich in allen seinen
Briefen - konziliant; sie erscheint sogar
konform, wenn er davon spricht (Zeile 56 f),
seine Gesinnung sei dieselbe geblieben.
Die Differenz zu dem Briefadressaten wird jedoch
gegen Schluß des Briefes deutlich, wo
Erath äußert, daß ihm der Krieg „die Augen
geöffnet" (Zeile 59 f) habe, und die individuelle
Freiheit der Innerlichkeit gegen jeden ideologischen
Zugriff, sei es von religiösen oder politischen
Instanzen, postuliert.
Eine weitere Briefstelle ist aufschlußreich und
korrigiert zum Teil die bisher ausschließlich rein
biographisch interpretierte Begründung für den
Bruch des in die politische Gesinnungsarbeit
(Agitprop) verstrickten Helden Florian durch
seine freiwillige Meldung zur deutschen Wehrmacht
1939.
In dem Roman „So hoch der Himmel"8), der die
Jahre von September 1926 bis 1939 (abgesehen
von einem kurzen, vierseitigen Epilog aus der
Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelt, heißt
es auf die erstaunte Frage nach der Begründung
für die freiwillige Meldung:
„Was ich suche, Ben? Du wirst mich wahrscheinlich
nicht begreifen. Freiheit suche ich.
Etwas mehr Freiheit."9^
Die Entscheidung für die Wehrmacht also als die
„aristokratische Form der Emigration" (Gottfried
Benn), wie sie noch in der zitierten Buchstelle
erscheint, wird nach diesem Brief (Zeile
9 ff) prosaischer zu deuten sein: Die „Kriegsbegeisterung
" wurde zwar nie angenommen, aber
der „dauernde Papierkrieg", der „innerlich nicht
zusagte", ist nicht gleichzusetzen mit der im
Roman geschilderten Befreiung aus politischer
Verstrickung. Diese Deutung wird meines Erachtens
auch dadurch unterstrichen, daß Erath
1955 ja keine Veranlassung gehabt haben dürfte,
die Gründe für seinen freiwilligen Wehrmachtseintritt
zu profanieren.
Die angedeutete Entwicklung Eraths, im Vorzug
gegenüber Rembold, wird indes noch verdeutlicht
, wenn man Aussagen des Dichters zur politischen
Schuldfrage diachron betrachtet. Der
hier edierte Brief Eraths datiert aus dem Jahr
1955, er stammt also aus jener Schaffensperiode,
in der die beiden ersten erfolgreichen Romane
veröffentlicht waren und Erath gerade an einer
Unterbrechung seiner Trilogie mit dem Roman
„So zünden die Väter das Feuer an" (veröffentlicht
1956) arbeitete, bevor er in die Zeit von
1957—1962 einmündete, die seine grundlegende
und aufrichtige Auseinandersetzung mit der
Zeit des Dritten Reiches und damit seiner eigenen
Schuldverstrickung mit sich brachte. Das
Ergebnis dieser Arbeit ist in den Roman „So hoch
der Himmel" gefaßt.
Damit ist aber die Beschäftigung mit der politischen
Schuldverstrickung für Vinzenz Erath
noch nicht zu Ende.
Aus dem Jahr 1964 ist ein Schriftwechsel erhalten10
), in dem ein A. Waldburger-Egli als Vertreter
eines Arbeitskreises junger Männer verschiedener
Nationalitäten an der Volkshochschule in
Zürich die Anregung weitergibt, von Dichtern
eine Art Beichte unter Implikation von Schuld
und Wiedergutmachung schreiben zu lassen.
(Brief vom 1.10.1964)
Die Antwort Eraths vom 20.10.1964 holt weit zu
einer metaphysischen Betrachtung der Schuldfrage
aus und differenziert zunächst zwischen
einer objektiven und subjektiven Schuld, wobei
eine metaphysische Betrachtung von Schuld etwas
ganz anderes sei als eine juristische.
Dann fährt Vinzenz Erath fort:
„Der durchschnittliche Deutsche glaubt,
wenn alle Verbrecher hinter Schloß und Rie-
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