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auch mit dem, was nach dem Sprichwort Leib
und Seel' zusammenhält.
An einem Eckpfosten der großen Wirtschaftshütte
lehnte der Melker des Fabrikanten Ehret
von Schramberg, ein junger, naturwüchsiger,
rotbackiger Appenzeller mit Lederkäppchen, rotem
Brusttuch und in Hemdärmeln, die Attribute
seines Berufs im linken Ohr tragend. Mit
sichtbarem Interesse sah er dem tollen Treiben
zu. Da rief ihn die ebenfalls anwesende Witwe
des Isidor Faist, Gründer der Schramberger
Steingutfabrik, die neben der Frau Ehret saß, an
ihren Tisch und ersuchte ihn, ein Appenzeller
Liedchen oder wenigstens einen Jodel zum besten
zu geben. Sonderbar, wie die Meinung allgemein
verbreitet ist, jeder Schweizer könne, ins-
besonders jeder Appenzeller müsse, ein geborener
Sänger und Jodler sein, und doch ist es in
dieser Beziehung geradeso wie anderwärts auch:
Werte Zeug dazu hat, der bringt's fertig.
Der ehrliche Alpensohn erklärte den beiden Damen
in artiger Weise, er könne weder singen
noch jodeln, nur „a weng brüele". Die Gruppe
vergrößerte sich durch den Hinzutritt verschiedener
anderer Personen, und aufs neue wurde
der Appenzeller von allen Seiten bestürmt, etwas
loszulassen. Da die Ansicht Platz griff, die
beständige Weigerung des Burschen habe ihren
Grund in der Bescheidenheit desselben, so
glaubte man ihm dieselbe dadurch zu benehmen
, daß man ihm kräftig einschenkte, was
sich derselbe mit freudestrahlendem Gesicht
auch gefallen ließ. Er wurde nach und nach
sichtlich aufgelegter und stieß einen gellenden
Fingerpfiff aus. Jetzt glaubte man, sei der Zeitpunkt
gekommen, den Angriff zu erneuern, doch
wiederholte der geplagte Mensch, er könne weder
singen noch jodeln, „bloß brüele, un das
würde de Lüte nüt gfalle". Darauf sagte einer der
Herren zu ihm, so solle er denn in Gottes Namen
„brüele".
Auf diese Aufforderung schien der Schlaue
schon eine Weile gewartet zu haben. Denn ohne
weiteres Zögern stellte er sich in eine Ecke der
Hütte, den Rücken anlehnend, seine Augen
glänzten, er fuhr einige Male mit den Armen in
der Luft herum und schnellte mit den Fingern. Er
schien hierbei zu wachsen. Jetzt riß er den Mund
weit auf und erschütterte die Luft mit einigen
ohrenzerreißenden Juchzern", denen nach und
nach ein Gebrüll folgte, wie ich es von einem
Menschen in meinem Leben nie wieder gehört
habe. Alles stob entsetzt auseinander, die Musik,
die in einer anderen Hütte spielte, verstummte.
Sofort sprangen einige Herren herbei und geboten
ihm Stillschweigen. Er aber brüllte noch
mehr und schrie zwischen hinein: „O Jesus, o
Jesus, i cha nimme uffhöre, des hani wohl gwüßt,
der Low in mer isch verwachet, ihr Lüt,
verdlaufet!"
So brüllte er fort, und alles ergriff die Flucht. In
einigen Minuten war der Platz, auf dem sich kurz
vorher so viele Menschen getummelt hatten,
geleert. Nur wenige hatten den Mut auszuharren
, zu denen auch ich mit einigen Bekannten
zählte. - Ich konnte dem Naturmenschen unmöglich
zürnen, nachdem ich zugehört hatte,
mit welcher Zudringlichkeit man ihm von allen
Seiten zusetzte. — Endlich brach auch er auf,
allerdings etwas schwankenden Schrittes, und
sagte beim Weggehen: „I denke, die Schramberger
werde mi jetzt lo go und mi nimme mit dem
Singe ploge; sie henn jetzt ihr Sach."
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