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Gerold Grupp:
JUGENDERINNERUNGEN EINES
ALTEN SCHRAMBERGERS
Im westlichsten Zipfel Alt-Württembergs, der
einzigen schwarzwälderischen Fünftälerstadt,
in Schramberg, bin ich 1912 geboren. Ich bin
halb Alemanne, halb Schwabe, denn die
Sprachgrenze ging mitten durch den Ort. Wer
sagte: „Wo bisch gsi?", wohnte im Höfle oder
beim Bahnhof.
Wer so fragte: „Wo bisch gwäa?", war östlich
vom Rathaus zu Hause. Wer außerdem „Lährer"
statt „Lehrer" sagte, war evangelisch. Man verstand
sich jedoch trotz der sprachlichen Unterschiede
, lernte noch Schriftdeutsch in der
Schule dazu und konnte so, höflich und langsam
, den Fremden Auskunft geben, wenn sie
den Weg zur Ruine Nippenburg1 oder zur Teufelsküche2
wissen wollten.
Die schöne Lage der Stadt ist den vier Bächlein
zu verdanken, die dem fünften, der Schiltach,
soviel Wasser zuführen, daß man auf ihr bis um
die Jahrhundertwende spielend die Flößerei3
betreiben konnte, wodurch die waldlosen
Holländer über Kinzig und Rhein in den Besitz
der kerzengeraden Mastbäume für ihre Segelschiffe
gelangten.
Wenn freilich der Göttelbach nach einem Wolkenbruch
übermütig wurde und an der Alten
Steige halbe Häuser wegspülte und, nachdem
er sich ausgetobt hatte, meterhoch Sand und
Geröll hinterließ, meinten manche, vier Täler
täten's auch.
Die Eisenbahn machte die Flößer und viele
Fuhrleute arbeitslos. Aber nicht nur diese
wetterten gegen das moderne Teufelszeug.
Kein vernünftiger Erwachsener wagte es, sich
dem fauchenden Lindwurm anzuvertrauen
und sich durch viele Kurven und den Schilta-
cher Tunnel schütteln zu lassen, selbst beim
anfänglichen Nulltarif. Erst als verwegene Buben
und Mädchen, angelockt durch Gratisbrezeln
, die väterlichen Hiebe einkalkulierend, die
Fahrt nach Schiltach und zurück heil überstanden
hatten, wagten auch die Alten einen Sonntagsausflug
per Bahn. Und schließlich bedauerte
man die seinerzeitige strikte Ablehnung der
Schwarzwaldbahn über Schramberg nach Rottweil
.4
Schramberg blieb so Endstation, abseits vom
großen Verkehr, und hätten nicht die Junghansuhren
seinen Namen in alle Welt getragen,
wäre das einstige Straßendorf nie zu einer so
lebendigen Stadt angewachsen.
Solange ich noch Windeln trug, war die Welt in
Ordnung. Aber dann, am 1. August 1914, zogen
die Schramberger singend durch die
Straßen. Beim alten Rathaus5 vor der Bäckerei
Seckinger wirbelte der dicke Stadttrommler
mit den Schlegeln unaufhörlich über das Fell,
und immer wieder wurde angestimmt: „Siegreich
wollen wir Frankreich schlagen...!" Die
blumengeschmückten Soldaten lösten sich
allmählich aus rührenden Abschiedsszenen,
wischten den Zurückbleibenden die Tränen ab
und riefen ihnen nach: „An Weihnachten ist
Wiedersehen!" Es wurden vier lange Jahre, und
manch einer kam nicht mehr zurück.
Im ersten Kriegsjahr litt ich noch keinen Mangel
. Ich gedieh so gut, daß es hin und wieder
Streitereien gab zwischen Nachbarstöchtern
und meinen Schwestern um den Vorzug, mich
im Kinderwagen ausführen zu dürfen. Dabei
kam es einmal vor, daß bei dem Gezerre der
hochrädrige Wagen umfiel und ich in den
Straßengraben kullerte, wobei ich mir einige
Schürfwunden zuzog. Größere Schmerzen hatten
hernach vermutlich meine Betreuerinnen
aufgrund der anschließend bezogenen Hiebe
daheim.
Vom dritten Lebensjahr ab habe ich ganz klare
Erinnerungen: Mein Geburtshaus, die Hauptstraße
1, hatte eine große Veranda, den „Wasch-
deraplatz"6 (Waschtrockenplatz) direkt über
dem Warenlager des darunterliegenden Kaffeegeschäfts
Waller. Bei schönem Wetter flatterte
zwar immer Wäsche zum Trocknen, doch
nebenbei war noch genug Platz zum Spielen.
Meinen geliebten „Hansl", den Hasen, konnte
man getrost herumspringen lassen, doch die
böse „schwarze Hex", der andere Hase, mußte
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