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im Stall bleiben, weil er jeden biß, der ihm zu
nahe kam.
Vom Fenstersims des Schlafzimmers bis zum
Boden des „Waschderaplatzes" war höchstens
ein Meter Abstand. Es war also für mich dreijährigen
Knirps nicht sonderlich gefährlich, auf
dem Sims herumzutapsen. Wenn aber unter
dem Sims eine „Wäschgelta" (Holzzuber) steht,
der Knirps das Übergewicht bekommt und mit
dem Mund direkt auf den Rand des Zubers
fällt, sind die vorderen Milchzähne weg, und
die Oberlippe ist aufgerissen. Kein Wunder, daß
ich vor Schmerz brüllte und meine Mutter
mich unter den Arm klemmte und aufgeregt in
den „Bären" gegenüber rannte, wo der Doktor
mich auf ein hohes, schwarzes Ledersofa legte,
mir eine Spritze gab und meine Oberlippe
zusammennähte.
Viel schlimmer aber war für mich der Verlust
meiner bis zur Schulter reichenden blonden
Locken. Ohne Vorwarnung führte mich meine
Schwester zum Friseur Flaig an der Alten Steige
. Dieser setzte mich auf einen hohen, drehbaren
Kinderstuhl, band mir eine weiße Schürze
um und griff nach der großen Schere. Jetzt
erst wurde mir klar, daß man mir das nehmen
wollte, worüber sonst alle entzückt waren. Ich
protestierte mit Geschrei, Gestrampel und
Kopfschütteln. Brutal wurde ich überwältigt,
meine Locken fielen nacheinander alle zu
Boden. Ich kam mir fast wie enthauptet vor,
und es dauerte Tage, bis ich mich beruhigte.
Ein kleines Abenteuer war jedesmal die Fahrt
im Leiterwägele, gezogen von meinem älteren
Bruder, zu einem Garten am Herrenwegle7,
der Nachbar Schlauder8 gehörte. Am eisernen
Portal zum Schloß vorbei, entlang der gräflichen
Mühle und dem Pferdestall, ging die Fahrt
zur breiten, oben abgeschrägten Mauer, auf der
ich durch vorsichtiges Auf- und Abgehen meinen
Mut beweisen konnte. Da zwischen Mauer
und Schloßgärtnerei ein Gitter angebracht war,
konnte nichts passieren. Das Schloß, manchmal
auch eine Kutsche und ein Stück des
hochumzäunten, bis zum Bahnhof reichenden
Parks konnte ich von dieser hohen Warte aus
gut sehen.
Bei Regenwetter war ich mit meinen wenigen
Spielsachen in der kleinen Wohnung immer im
Weg. Dabei hätte ich im Besuchszimmer genug
Platz gehabt. Aber dieses wurde nur aufgeschlossen
, wenn Besuch kam oder wenn
musiziert wurde. Das schwarze, hohe Klavier
stand darin, ferner ein Harmonium, Notenregale
und Notenständer, zwei Geigen und eine
Bratsche. In der Mitte lag auf dem achteckigen
Tisch eine Spitzendecke, auf deren Mitte in
der glitzernden Glasvase immer Blumen oder
wenigstens ein paar Zweige steckten. Durch
ein Fenster blickte man direkt zum Friseurgeschäft
Schuler mit dem großen Emailschild
„Odol - das Beste für die Zähne" oder schräg
hinüber zum „Kolonialwarenladen und Spe-
zereigeschäft" Kopp9, wo man für zwei Pfennig
eine Handvoll Bonbons erhielt oder für
fünf Pfennig eine kleine Tüte voll Himbeerbonbons
aus dem großen Vorratsglas. Gegenüber
wohnte Sattlermeister Klaußner, der Erfinder
der Patentmatratze.10
Vom „Spritzenhaus"11 hinterm Haus trennte
uns nur ein schmaler Fußweg. Unten war das
Feuerwehrmagazin, oben wurden in einigen
vergitterten Zellen Säufer und Spitzbuben
arrestiert (Abb. la, b). Dabei waltete der dicke
Stadtpolizist Nagel seines Amtes, mit Säbel und
Pickelhaube, versteht sich. Da er allseits bekannt
war, lag es nahe, in der Schule seinen
Bauch mit der Erdkugel zu vergleichen und
seinen Gürtel mit dem Äquator. Wenn die
Eingesperrten manchmal gar zu sehr jammerten
, reichte Wallers Dienstmädchen den
Flehenden ein Täßchen Kaffee hinüber, dann
war's nach einiger Schäkerei wieder ruhig.
Der andere Nachbar über der Seitenstraße war
Fabrikant Schlauder. Dieses große Haus mit
seinen vielen Zimmern und der erlesenen Einrichtung
war für mich wie ein Märchenschloß.
Zum ersten Mal sah ich ein Badezimmer, ein
Musikzimmer mit großem, schwarzem Flügel,
ein Billard- und Schachzimmer und eine riesige
Küche, wo Pfannen und Kupferkessel glänzten
und wo aus einem roten Hahnen heißes Wasser
herauskam. In einem hohen Käfig war Lora,
ein Papagei, der richtig sprechen konnte, und
der Hund Zampa durfte all die schönen Teppiche
dreckig machen. Frau Schlauder mit ihrem
klirrenden Schlüsselbund am Gürtel kam mir
wie eine gute Fee vor, denn sie steckte mir
immer einen guten Brocken zu, mindestens
aber ein reichlich mit Butter und Gesälz12 beschmiertes
Weißbrot. Auch die vier erwachsenen
Töchter waren nett zu mir, und Herr
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