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rotgefärbten Wasser ein schwarzes Teufelchen
in der Glasröhre „hinab und hinauf und zeigte
jedem seinen Lebenslauf" bei persönlichem
Druck auf den Gummischlauch. Wer dem
Teufel nicht traute, konnte sein garantiert
richtiges Horoskop aus einer Kartei ziehen.
Nichts mit Hokuspokus hatte das zu tun, was
mir mein Freund Alfred Schweizer vorführte:
Er klemmte mir eine kleine Büchse ans Ohr,
die mit einem Draht an einem Brettchen hing,
auf dem eine komische Glühbirne, eine Batterie
und ein glitzerndes Steinchen montiert waren
, auf dem er mittels eines angebrachten
Drahts so lange herumkratzte, bis ich aus der
Büchse Musik hörte. Überrascht und völlig
aus dem Häuschen rannte ich heim und
stammelte: „Ich hab Musik aus einem Stein
gehört!" „Das ist Radio, eine ganz neue Erfindung
", belehrte mich Vater. Bereits 1924 hatte
er das neueste Gerät mit zwei Autobatterien,
von denen eine immer beim Aufladen im
Geschäft war.
Auch sonst gab es viel Neues: Die Tochter des
Möbelfabrikanten Moser fuhr täglich mit ihrem
Elektroauto in die Stadt. Ein komisches Fahrrad
sah ich zuweilen auf der Straße, bei dem man,
liegend auf zwei Schwenkhebeln, nach vorne
strampelte. Die Hauptstraße wurde geteert,
und immer mehr Motorräder ratterten durch
die Stadt. Auf eines der ersten setzte sich mutig
Metzger Jegglin, eifriges Mitglied im Radfahrverein
, und fuhr gen Sulgen. Er kam auch wieder
heil zurück, aber wußte nicht, wie man die
Ratterkiste abstellen konnte. Also fuhr er bis
zum letzten Tropfen Benzin in der Stadt herum
und schob schließlich das Motorrad nach
Hause.
Im Kino gegenüber Schlauders gab's schon
damals einen Vorläufer des Tonfilms: Die
Schauspieler waren anwesend und erhielten
ihre Sprech- und Singeinsätze von einem kleinen
Männchen, das auf dem Bildschirm links
unten zu sehen war.
Neu war auch, daß die Krägen am Hemd
angenäht waren; man brauchte keine Kragenknöpfe
mehr. Auch die steifen Manschetten
und Krägen samt den Brustlätzen waren aus
der Mode. Die Mädchen trugen Bubiköpfe und
wagten kurze Röcke - auch der Reißverschluß
trat seinen Siegeszug an. Männer trugen
Knickerbocker oder sehr weite Hosen, Frauen
zwängten sich nicht mehr in enge Korsetts.
Vorbei die Zeit, daß Junghans mit einem Panzer
oder später mit einer Dampfwalze eine Wagenschlange
zur Bahn ziehen mußte, es gab wieder
Lastwagen, anfangs mit Holz befeuert, dann mit
Benzin betrieben, das von Hand aus der Zapfsäule
gepumpt wurde.
Was hoffnungsvoll begann, endete in Rezession
, es ging wirtschaftlich bergab. Die horrenden
Zahlungen an die Siegermächte, die Reparationen
, lähmten die deutsche Wirtschaft.
Arbeitslosigkeit, magere Löhne führten zu Tumulten
.
Ich sah, wie eine aufgebrachte Menge bei Holzherr
, einem Kleidergeschäft neben dem alten
Rathaus, die Schaufenster zertrümmerte. Die
Polizei konnte nicht Ordnung schaffen. Die
Reichswehr wurde gerufen. Vor dem Rathaus
wurden Maschinengewehre aufgestellt. Ausgehverbot
wurde erlassen, mit Scheinwerfern
wurde die Hauptstraße abgesucht. Es trat zwar
wieder Ruhe ein, doch an der allgemeinen
Misere änderte sich nichts.
Ein Großfeuer am Stefanstag 1925 vernichtete
das Schlaudersche Haus32, bengalisches Feuer
beleuchtete wenige Tage später die Ruine Nippenburg
, während auf dem Rathausplatz Silvesterklänge
ertönten und jeder dem andern
ein besseres neues Jahr wünschte.
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