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Ernst Huber:
EINE SCHRAMBERGER WEIHNACHT
Das Kriegsjahr 1944 ging seinem Ende zu. Galt
dies auch für diesen schrecklichen, im September
in sein sechstes Jahr gegangenen Krieg? Es
sah ganz danach aus. Am 6. Juni hatte die riesige
alliierte Invasion in der Normandie begonnen
. Seither schoben sich die Fronten immer
näher an die westliche Reichsgrenze heran.
Am 14. November 1944 begann die 7. amerikanische
und die 1. französische Armee einen
Angriff, welcher sie aus der Burgundischen
Pforte heraus bis an den Oberrhein bringen
sollte. Von da an bestand für alle deutschen
Gebiete westlich des Rheins die akute Gefahr,
von einem Tag auf den anderen zum Kriegsgebiet
zu werden. Wer Verwandte oder Freunde
auf der östlichen Rheinseite hatte, floh auf
eigene Faust dorthin.Aber es waren verhältnismäßig
wenige die das konnten. Dann reagierten
die Behörden. Sie verfügten, dass Frauen
und Kinder innerhalb kürzester Zeit in einer
umfassenden Evakuierungsaktion ihre Wohnorte
zu verlassen hätten. Sie wurden bei Nacht,
am Tage war dies wegen der allgegenwärtigen
Tiefflieger nicht mehr möglich, in Sonderzüge
verladen welche sich alsbald Richtung Osten in
Bewegung setzten. Wohin? Keine der nur mit
Koffer und Taschen notdürftig ausgestatteten
Frauen wusste es. Es ging ins völlig Ungewisse.
Ihre Männer, soweit sie nicht ohnehin schon
im Krieg waren, wie auch alles bisher hart erarbeitete
Hab und Gut, musste zurückgelassen
werden.
An verschiedenen Punkten der Stadt Schram-
berg im Schwarzwald gab es Flakstellungen zur
Abwehr feindlicher Luftangriffe. Praktisch
konnten sie bei der geringen Reichweite ihrer
Geschütze gegen die in großer Höhe fliegenden
, Tausende von Flugzeugen umfassenden
Bomberverbände nichts ausrichten. Aber in
Bereitschaft mussten sie dennoch immer sein,
Tag und Nacht. Gestandene Soldaten waren es
allerdings nicht, die dort Dienst taten. Eher
noch fast Buben, knapp Sechzehnjährige, rekrutierte
Oberschüler und Lehrlinge die sich als
Luftwaffenhelfer in den eisig kalten Dezembernächten
des Jahres 1944 die Füße in den Bauch
stehen mussten.
Von den Stellungen auf dem Schlossberg besonders
von der vordersten, sah man hinab auf
die nächtliche Stadt. Sie lag völlig im Finstern.
Seit Kriegsbeginn gab es die Verdunkelung.
Jedes Licht musste vermieden, selbst dasjenige
der so raren Taschenlampen unter Androhung
strengster Bestrafung abgeschirmt werden. Seit
nunmehr sechs Jahren hatten sich alle an die
allnächtliche Dunkelheit gewöhnt.
Aber plötzlich, völlig unvermittelt, geschah
etwas Besonderes, etwas ganz Sensationelles.
Auf dem Schlossberg rieb man sich die Augen.
Sah man Gespenster? Ging dies noch mit
rechten Dingen zu? Auf einen Schlag war das
Bahnhofsgelände in hellstes Licht getaucht. In
der klaren Winterluft, es ging so gegen Mitternacht
, war das Geräusch auffahrender Autos,
das Rollen von Gepäckkarren und sogar das
Wiehern von Pferden deutlich vernehmbar.
Und da hörte man auch schon aus Richtung
Bühlhof das Schnauben und Pusten einer
Schwerarbeit leistenden Lokomotive. Ein Zug?
Außerhalb jeglichen Fahrplans? Mitten in der
Nacht?
Es war so. Ungläubig sahen die Luftwaffenhelfer
, wie ein riesenlanger Zug, gezogen von
zwei, bis in das Majolikagelände hineinfahrenden
Lokomotiven, in den kleinen Bahnhof einfuhr
und Dampf ablassend, zischend anhielt.
Gleich darauf gab es ein infernalisches Stimmengewirr
wie es nur von sehr vielen Menschen
verursacht werden konnte. Dazwischen
immer wieder laut gebrüllte Befehle, welche in
diesemTohuwabohu offensichtlich nur schwer
gehört werden konnten.
Nach einer Stunde war alles wieder vorbei, der
Spuk verflogen. Im Schramberger Tal war es
wieder so finster wie in einem Kohlenkeller.
Der nächste Morgen brachte die Lösung des so
unvermittelt aufgetretenen Rätsels. Mitten in
der Nacht war ein Flüchtlingszug mit so ge-
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