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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/kraez_24/0082
satz stehende Mutter vernahm es deutlich: „Ein
kleines Butzele!" Und da hörte man auch schon
ein erbärmlich quiekendes, noch ganz dünnes
Babystimmchen.

Die Haustüre fiel zu, die Mutter ging schnell
hinunter, und da sah sie das Unfassbare. Es war
nicht, wie aufgegeben, eine einzelne Person,
nein, es waren insgesamt drei. Eine ältere Frau,
eine sehr junge Frau und ein winzigkleines
Baby. Sie standen verschüchtert, verfroren und
sehr hilflos im Treppenhaus.
Da musste es sich doch offensichtlich um ein
rasch aufklärbares Versehen handeln. „Aber
jetzt kommt zuerst einmal in die warme Stube,
dann sehen wir weiter." Da saßen sie nun am
Tisch, die ersten Flüchtlinge, welche die Kinder
zu sehen bekamen: müde, übernächtigt, vom
steilen Weg fast noch atemlos, fix und fertig.
Der älteste Sohn begann zu erzählen.Als er an
das Rathaus kam, waren dort schon viele Leute,
welche alle eine ihnen zugeteilte Person abholen
wollten. Er musste sich deshalb ganz hinten
anstellen. Als er schließlich an die Reihe kam,
waren nur noch diese drei, von ihm jetzt mitgebrachten
Personen übrig, eine Mutter, deren
neunzehnjährige Tochter, welche aber schon
Kriegerwitwe war, und deren sechs Wochen
altes Baby, die kleine Hildegard. Sie wollten
unbedingt beieinander bleiben.
Alle anderen Abholer hatten sich aus den verschiedensten
Gründen außerstande gesehen so
viele Personen „aufzunehmen". Die Diensttuenden
aus der NS-Frauenschaft, eine Rotkreuzschwester
und ein Gestiefelter in der
braunen Parteiuniform hatten auf ihn eingeredet
, jetzt halt mal die Leute mitzunehmen. Ihre
Betten seien schon wieder durch andere
belegt, und in der Schloßschule könnten sie
deshalb heute Nacht nicht mehr bleiben. Morgen
könne man dann weiter sehen. Irgendwie
hatte er dies verstanden, die Koffer in seinen
Leiterwagen geladen und ihn den steilen Weg
heraufgezogen. Die Frauen, nicht an so einen
Berg gewöhnt, kamen schnaufend hinterher.
Ziemlich verunsichert, wohl wissend, dass er
damit weder seinen Eltern, noch seinen Geschwistern
einen Gefallen getan habe, schloss
er seine Schilderung mit: „Und jetzt sind wir
halt da!"

Dies war unübersehbar. Die Mutter dachte mit
Grausen an das im Haus entstehende Durcheinander
, an die viele Arbeit mit ihren eigenen
kleinen Kindern und natürlich an den morgigen
Heiligen Abend wo schon, mit der im
sechsten Kriegsjahr unumgänglichen Mühsal,
einiges vorbereitet war. „Nein", so kam sie, zwar
noch unausgesprochen, aber dennoch klar zum
Schluss: „Das geht nicht, mit dem besten Willen
nicht!"

Während sie dies bei sich dachte, kamen ihr
wohlbekannte Schritte die Treppe herauf. Es
war der Papa, welcher, wie in dieser Zeit üblich,
erst jetzt aus dem Geschäft kam. Verwundert
sah er auf die vielen Leute.Wohl hatte er erwartet
, seine Frau mit einem Gast in der Stube vorzufinden
, nicht aber, die Kinder waren ja nicht
ins Bett zu bringen gewesen, so eine Menschenansammlung
. Bald war er über die eingetretene
Situation informiert. Das Los dieser
Leute hatte ihn offensichtlich sehr beeindruckt
. Immer wieder sah er auf seine Frau und
die auf sein entscheidendes Wort wartenden
Kinder.

Später erzählte er, wie ihn damals, bei diesem
Blick in die eigene Familienrunde, plötzlich ein
Gefühl des Dankbarseinmüssens überkommen
habe, welches sich nicht mehr verdrängen ließ.
So konnte er einfach gar nicht mehr anders, als
an seine Frau gewandt zu sagen: „Schätzle, morgen
ist Heiliger Abend. Wir können doch diese
Leute nicht wieder fortschicken. Wo acht Kinder
sind, hat auch noch ein neuntes Platz, und
für die eine Person mehr, finden wir auch eine
Lösung." Nach einer kleinen Pause setzte er
noch hinzu: „... und dann haben wir in diesem
Jahr ein echtes Christkindle." Das war das
Stichwort: „Ein Christkindle, ein Christkindle",
freuten sich die jüngeren Kinder, und die
älteste Schwester meinte: „Das war jetzt gerade
wie bei der Herbergssuche."
Dann ging es aber schon ans organisieren. Die
Oma der kleinen Hildegard, wie von einer
schweren Last befreit, aber immer noch sehr
verschüchtert sagte: „Es wäre schön wenn in
unserem Zimmer eine Feuerstelle für das
Schöpplemachen wäre, dann bräuchten wir
dazu nicht immer in die Küche." Das war einzusehen
. Also nochmals umorganisieren. Die
große Schwester nahm das Heft in die Hand:
„Die zwei mittleren Buben räumen ihr Zimmer
und werden umquartiert. Du holst das kleine
Kinderbettchen von der Bühne und stellst es in

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