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Heinz Nienhaus:
„DER STOCKER" - EIN ORIGINAL
MIT TENNENBRONNER WURZELN
Heinz Nienhaus, Bottrop/
Schramberg-Tennenbronn
In der heutigen uniformen, bis ins Kleinste durchorganisierten und reglementierten Welt der
Computer und des Internets orientieren vor allem junge Menschen ihr Verhalten, ihre Wertvorstellungen
und selbst ihre Kleidung kaum mehr an ihren persönlichen individuellen Vorstellungen
, sondern an dem was „in" ist. Und das wiederum wird durch internationale
Trends vorgegeben. Globalisierung ist das Schlagwort, das die Menschen mehr und mehr zu
uniformen Weltbürgern werden lässt. Originale - im Sinne origineller Menschen - haben in
unserer Gesellschaft kaum noch Platz; sie sind selten geworden.
Der im Jahre 1831 in Tennenbronn geborene Christian Heinzmann, genannt der „Stocker",
war ein Mensch mit sehr individuell ausgeprägten Neigungen. Über das leben dieses sonderbaren
Individualisten berichtet der folgende Beitrag.
Ein Hang zum Hintersinnigen
Selbst in der so oft zitierten sogenannten
„guten alten Zeit" - wobei „guten" relativ zu
werten ist - waren wirklich originelle Typen
wohl so etwas wie Raritäten. Dennoch werden
auch heute noch in einigen dörflichen Regionen
des Schwarzwaldes Sagen, Legenden und
Mythen oftmals nicht als solche verstanden
und auch der Aberglaube ist insbesondere bei
den Menschen auf den abgelegenen, einsamen
Höfen einfach nicht totzukriegen. Die Zeit der
Aufklärung und des technischen Fortschritts
scheinen an ihnen vorbeigegangen zu sein; sie
hängen am Vertrauten, dem Althergebrachten.
Echte Schwarzwälder hatten schon immer
einen Hang zum Hintersinnigen. So hängt beispielsweise
an der Firstsäule vieler jahrhundertealter
Bauernhäuser auch heute noch ein
mumifizierter Ochsenschädel. Nach mündlichen
Überlieferungen ist das der Schädel des
Ochsen, der die Baumstämme aus dem Wald
zur Baustelle schleppte. Am Firstbaum aufgehängt
soll er - falls das Kruzifix im Herrgottswinkel
der Stube einmal versagt - die Hofbewohner
und das Vieh vor tödlichen Seuchen,
Blitzschlägen und anderen Unglücksfällen
beschützen. Für diesen betrüblichen Fall sind
in vielen alten Schwarzwaldhöfen auch
Abwehrzeichen oder gar Fratzen in die hölzernen
Wände eingeritzt. Gelegentlich hängte
man auch ein Hufeisen in den Herrgottswinkel
der Bauernstube und machte es durch ein vorgenageltes
Brett unsichtbar. Schließlich sollte
der Herrgott nicht sehen, dass der Bauer sich
auch auf andere Götter verließ.
Dennoch, einen so ausgeprägten Sonderling,
wie den auf der Ansichtskarte aus der Zeit um
1900 abgebildeten Einsiedler (Abb. 1), wird
man heute wohl im gesamten Schwarzwald
nicht mehr finden. Wegen des so ungewöhnlichen
, ja abenteuerlichen, aber auch markanten
Aussehens dieses Mannes, der die Zeit im
Bild überdauerte, und wegen seiner sehr seltsamen
Behausung erregt die rund 100 Jahre alte
Karte auch heute noch eine gewisse Aufmerksamkeit
und Neugierde. Aus wahrscheinlich
vielerlei Gründen verließ er im Alter von 55
Jahren seine Familie und lebte fortan in not-
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