Freiburger historische Bestände - digital

Der heilige Gregor von Nyssa hat dem Lebensbilde, das
er von seiner ehrwürdigen Schwester Macrina gezeichnet, eine
einzige Wundergeschichte, die Erzählung einer durch ihr Gebet
bewirkten Heilung beigefügt. Er hat sie auf dem Heimweg
von der Beerdigung der Verewigten vom dankbaren Vater des
geretteten Kindes, einem hohen römischen Offiziere, sich erzählen
lassen. Obwohl man ihm noch andere, viel wunderbarere
Vorfälle aus dem Leben seiner Schwester mitteilte, hielt
er es doch für gut, darüber zu schweigen, und schloß sein Buch
mit den Worten: „Damit die Schwächeren im Glauben nicht
Schaden leiden, wenn sie Gottes Gaben mißtrauen, so hab' ich
es vermieden, von den höheren Wundern allen zu erzählen, in
der Meinung, es genüge durch das Gesagte ihre Geschichte
beschrieben zu haben."

Diese weise und zarte Zurückhaltung des hl. Gregor, die
dem Lebensbilde seiner Schwester nicht nur keinen Schatten,
sondern einen um so lieblicheren Glanz verleiht, wird in der
Zeit, der wir uns mit vorliegender Studie zuwenden, mehr und
mehr vergessen and außer acht gelassen. Wohl hat im 13.
Jahrhundert der fromme David von Augsburg gepredigt, das
Hauptgewicht im Leben des wahren Mystikers sei auf innere
Lebensregelung und rückhaltlose Hingabe an Gott, nicht auf
Visionen und Offenbarungen, Prophezeiungen und sinnliche Ergötzungen
zu legen, da diese Dinge nur bei wenigen auf Wahrheit
beruhten 2); aber zur selben Zeit schreibt der Dominikaner
Thomas von Ghantimpre zu dem von ihm verfaßten, mit

l) Kemptener Bibliothek der Kirchenväter, Ausgewählte Schriften
des hl. Gregor v. Nyssa 1, 119 f.
-) Michael 142 ff.