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Nim noch einige Bemerkungen, die Körper beider Mädchen betreffend. — Die erste
(Taf. I —VI), eine Blondine, welche 18 Jahre alt den Tod in den Fluthen gesucht hatte,
fesselte durch Schönheit, Jugend, kräftigen Körper und Gesundheit. Ihre Formen zeigten Fülle
und Anmuth. Die zweite (Taf. 1—6), schwarz von Haar und dunklem Teint, 23 Jahre alt und
anscheinend gesund, stürzte eines Morgens plötzlich bei einer Haemorrhagie aus den Lungen
todt nieder. Die Haut war welk, ohne viel Fettunterlage, und der schon etwas abgemagerte
Körper (Tuberkulose) zeigte im Ganzen mehr markirte, aber doch feine und nicht unedele
Formen. Statt der schönen, vollen, kräftigen und anmuthigen Gliederformen jener ersten waren
hier zwar feingeformte aber schwächliche Arme, und leider durch Krankheit in der Jugend
etwas missgestaltete Unterextremitäten *).
Beide Mädchen hatten ziemlich dieselbe Grösse, nur war bei der zweiten der Rumpf, bei
der ersten aber waren die Gliedmassen grösser (erstere 154.c-, letztere 156 c ). Bei der ersten
(Taf. I—VI) zeigten sich- die Muskeln kräftig, strotzend, roth und scharf geprägt; bei der
zweiten (Taf. 1—-6) blass, weich, schlaff, schmächtig und mit Fett imprägnirt. Den interessantesten
Unterschied bot aber das Skelet. Der Rumpf des zweiten Mädchens war
ausgezeichnet durch mehr als gewöhnlich breites Becken, hohe Lendenwirbel, aber schmälere
Brust**). Das erste Mädchen zeigte ein weit engeres, in einer oder der anderen Richtung selbst
etwas beschränktes Becken, aber breiteren und tieferen Thorax' (jene starb in der Exspiration,
diese in der Inspiration). Indem nun jene höchst charakteristisch die weibliche Form zeigt,
ähnelt diese vielmehr dem Bild des männlichen Skeletes ***).
Wenn nun aber auch der Bau des zweiten Mädchens durch mehr weibliche Form vor
dem ersteren den Preis verdient, so fesselt doch dieses durch feine und weiche Modellirung
und durch Anmuth weit mehr und genügt in dieser Hinsicht selbst dem an die edelsten
Formen gewöhnten Künstler.
Ich komme hier freilich an einen Punkt, der die öfter von Malern ausgesprochene
Ansicht rechtfertigen könnte: dass für den weiblichen Körper die Kenntniss der
Anatomie ohne Belang, indem hier die Fülle der äusseren Form das Skelet und die
Muskeln verdecke. — Auch die Bemerkung des Bildhauers v. d. Launitz spricht für diese
Ansicht, da derselbe nach seinen Messungen das Becken der Venus von Melos für schief
erkannte.
Wenn ich nun aber gleich Herrn v. d. Launitz die vollkommenste Kenntniss des
männlichen Knochengerüstes zuerkennen muss, und er deshalb als der Anatom unter
den Künstlern angesehen wird, so muss ich ihm doch hier vollständig widersprechen.
Es zeigen nämlich meine in Gegenwart des Bildhauers Herrn Professor Zwerg er und
einiger Fachgenossen angestellten Messungen die Entfernung der hintern und vordem Darmbeinstacheln
, sowohl von der Symphyse als auch von der Mitte des Kreuzbeines, beiderseits die
vollste Uebereinstimmung.
Für den männlichen nackten Körper hat der Künstler, indem ihm gute Modelle weit
eher zukommen, viel weniger Schwierigkeiten zu überwinden als für den weiblichen.
Auch unterstützen an ersterem die Vorsprünge der Muskeln nicht unbedeutend die
richtige Auffassung und die bestimmtere Wiedergabe. Zuweilen vermag auch wohl der Maler
durch reichliche Muskelstaffage das mangelnde Verständniss dem Auge des Laien zu verhüllen. —
Bei dem weiblichen Körper fehlt dieses Alles. Hier fehlen meistens die schönen Modelle. Die
Muskeln sind schwach und das Skelet ist fein. Das beide (in noch höherem Grade als beim
Manne) bedeckende mächtige Fettpolster ermöglicht die stärkere Verschiebbarkeit der Hautfiächen.
Dieses Alles erschwert das Verständniss. — Weil nun aber gerade hier die Innengebilde
weniger an die Oberfläche treten, müssen diese wenigen Stellen um so sorgfältiger
aufgesucht und berücksichtigt werden, um die feineren und weicheren Modulationen
des weiblichen Körpers zu verstehen. Ohne Berücksichtigung dieser Verhältnisse irrt der
Künstler in den leeren Flächen nur im Unbestimmten und die Totalform erleidet Einbusse. —
*) Ich hielt diese Leiche übrigens Anfangs deshalb für besonders werthvoll, da sie sowohl im Leben als
auch nach dem Tode für ein Judenmädchen gehalten wurde. Genauere Nachfragen erwiesen dieses jedoch als irrig.
**) Diese war aus der JS"ähe des Taunus, jene aus dem Thüringer Walde.
(Tafel I —VI.)
(Tafel 1 — 6.)
Mädchen.
Mädchen.
. . . 385m-
375m
335m-
. . . 280m-
270ra-
240m-
. . . 21m-
22m-
. . . 17m-
18m.
Messungen am Becken.
(gewöhnlich)
. . . 248m-
286m-
256m-
Entfernung der Hüftbeinstacheln .
. . . 23 6m-
272m-
243m-
Beckeneingang.
. . . nom-
112m-
115m-
. . . 118m-
147m-
135m-
. . . 110m-
I37m-
126m-
Beckenhöhle.
Gerader Durchmesser ....
. . . 109m-
138m-
119m-
Quer-Durchmesser ....
138m-
126m-
100m-
108m-
175m-
Frankfurt a. M., August 1867.
Schwerlich aber würde jene berühmte Venus von Melos den goldnen Preis der Schönheit
von der Künstlerwelt erhalten haben, besässe sie wirklich den grössten Fehler des Weibes,
nämlich ein missgestaltetes Becken.
Da ich bei den orthogonalen Projectionen ganzer menschlicher Körper und namentlich
dem Einlagern verschiedener anatomischer Systeme in einander noch keinen Vorgänger habe, so
glaube ich zunächst die Weise, in welcher folgende Blätter entstanden sind, schildern zu müssen.
Die Leiche, auf einer elastischen Unterlage in eine leicht bewegte Stellung gebracht,
wurde zuerst auf ihrer ganzen Vorderseite vom Kopf bis zu den Zehen geformt und dieser
sehr verdickten Gypshülle eine Eisenstange eingefügt. Alsdann wurde die Leiche mit ihrer
Decke umgelegt und ebenso eine dicke mächtige Gypsschale auf die hintere Körperseite
aufgetragen. Nachdem diese letztere abgehoben, wurden die Muskeln auf der jetzt zu Tage
liegenden Rückenseite präparirt und einerseits die oberflächlichen, andererseits die tieferen
Muskeln klar gelegt. Die so präparirte (hintere) Körperseite wurde wieder geformt und die
neue Schale gleich wie früher durch Auftragen von Gyps und Einlegen einer Eisenstange so
verstärkt, dass sie ohne zu zerbrechen die wieder auf die Rückens eite umgelegte Leiche
in sich tragen konnte. Nachdem nun die frühere vordere Gypsschale aufgehoben und die
Muskeln der vorderen Körperseite wie auf dem Rücken präparirt waren, wurden auch diese
geformt.
So waren also die Form für denselben Körper in Haut und in den Muskeln entstanden
und aus diesen zwei vollständige Figuren gegossen.
Diese mühevolle, höchst umsichtig und gut ausgeführte Arbeit danke ich den Bildhauern
Herren Rudolph Eckhardt von hier und Joseph Bender von Mainz, Schülern des hiesigen
Städel'schen Kunstinstitutes, und dem Herrn Professor Zwerger.
Um nun die orthogonalen Projectionen dieser Statuen und des dazu gehörigen Skeletes
zu machen, verfuhr ich folgendermassen. Zuerst wurde der in Gyps gegossene Muskelkörper
unter eine (durch die Wasserwage) horizontal gestellte Glastafel gelegt und vermittelst meines
Orthographen mit wandelndem Auge (über das Glas fortschreitend) die senkrecht unter dem
Fadenkreuz erscheinenden Stellen desselben mit Tusche auf das Glas punktirt. Der so
geometrisch auf das Glas gezeichnete Körper wurde auf Pauspapier übertragen.
Nachdem so die Vorderansicht gewonnen, wurde die Glastafel senkrecht an die eine
und dann an die andere Seite der unverrückt daliegenden Muskelstatue gestellt und nun durch
den horizontal gelegten Orthographen die Seitenansichten auf das senkrecht stehende Glas
gezeichnet.
Nun galt es auch die Rücken seite zu erhalten.
Ich liess durch Tücher und Baumwolle alle Vertiefungen in der vorderen Fläche der
Figur ausfüllen, so dass ein auf dieses Polster gelegtes stark aufgedrücktes Brett eine horizontale
Lage bekam. In dieser Lage wurde das Brett durch Zirkeltouren (um die Rückseite der Statue
und um das Brett herumgehend) vermittelst einer Binde befestigt und nun die Figur umgelegt.
Um nun aber die der früheren vollkommen entgegengesetzte Lage zu erhalten, musste
mittelst des Orthographen und der auf der Glastafel aufgezeichneten charakteristischen Stellen
der früheren Contouren das Uebereinstimmen letzterer mit der Figur geprüft und durch feinere
Einstellungen rectiflcirt werden. Nachdem auch der Aufriss der Rückenseite wie früher genommen
und so der Muskelkörper von vier Seiten in orthogonaler Projection erhalten war, galt
es in diese Aufrisse auch die Projection des Skeletes zu legen. Der ungleich mühsamste
Theil der ganzen Procedur war die richtige Lagerung des Skeletes.
Nachdem das durch seine Bänder noch vereinigte Skelet eine ganze Woche in öfter
erneuertem Wasser gelegen hatte, wurde es unter das Glas gebracht, auf dessen unterer Fläche
mit rother Tinte der Muskelkörper (natürlich das Bild umgekehrt) gezeichnet war.
Nur dadurch, dass man erst den einen Theil legte und sogleich zeichnete, ehe
man zu einem andern überging (indem beim Einlegen des Ganzen durch Einstellen des
einen Theils ein schon früher rectificirter gar zu leicht verschoben wird) gelang diese höchst
mühevolle Procedur.
Den Anfang machte die Rückenseite (da diese die ineisten Anhaltspunkte bot), alsdann
folgten die Vorder- und zuletzt die Seitenansichten. Nach dem Skelet kam dann die nackte
Figur an die Reihe, und auch dieser musste der Muskelkörper als Basis dienen. Nachdem auch
dieses in der vorher angegebenen Weise zu Stande gebracht war, wurden alle zwölf lebens-
grossen Zeichnungen auf die Hälfte der linearen Ausdehnung verkleinert*).
Es giebt Menschen, die nur aus Büchern lernen, und wieder solche, die durch unmittelbare
Anschauung sich bilden und nur als Beihülfe die Bücher gebrauchen. Dem Künstler,
weniger verdorben durch die Schulbänke und daher auch geübter und gewandter, unmittelbar
aus der Anschauung sich zu belehren, werden wohl nachfolgende kurze Notizen als Erklärung
der Tafeln genügen.
*) Für den Künstler, dem beim Anfertigen von Büsten nach dem Leben es als eine Bequemlichkeit erscheint,
zuerst nach angefertigten Aufrissen zu modelliren, und wenn hierdurch die Verhältnisse aufs Genaueste festgestellt
sind, seine künstlerische Aufgabe in den Sitzungen zu beginnen, findet sich mein Apparat für geometrische Zeichnungen
sowohl in meiner „Morphologie der Bassenschädel" als in dem Aufsatz des Herrn Prof. Landzert: „Welche
Art bildlicher Darstellung braucht der Naturforscher?" (Archiv für Anthropologie Bd. 2) beschrieben und abgebildet.
XiLicae
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