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w enn eine Wissenschaft sich der bildenden Kunst verpflichtet fühlen muss, so ist es
die Anatomie des Menschen, denn ohne den Beistand der Künstler würde diese nie zu ihrer
gegenwärtigen Entfaltung gekommen sein. Ohne den Schüler des Leonardo da Vinci wäre
Vesal vielleicht nicht zum Gründer der neueren Anatomie geworden, und ohne einen Wandelaar
konnte schwerlich ein Siegfried Albin seine Prachtwerke über die Knochen und Muskeln in
dem Grade vollenden.
Doch nicht hierfür allein haben sich die Anatomen bei den Künstlern zu bedanken,
sondern auch dafür, dass der Verkehr mit der echten Kunst den Anatomen nie ganz in der
Materie versinken und geschmacklos verknöchern lässt, sondern ihn durch edele Gebilde wohl-
thuend belebt und von Seiten der Schönheit die Natur zu erfassen veranlasst.
So wurde die Kunst nicht nur Dienerin unserer Wissenschaft, sondern nach einer Seite
hin auch Bildnerin, und daher suchten ein Albin und ein Thomas v. Soemmerring nicht
die correcte Nachbildung des Individuellen, sondern die schöne Mittelform, die idealen Typen
in ihren Werken darzustellen.
Gleichwie Deila Torre durch seine Belehrung die künstlerischen Studien da Vinci s
förderte, dieser aber die anatomischen Bestrebungen jenes unterstützte, so wurden jetzt die
Werke dieser Männer eine erwünschte Basis für die echten Künstler der Neuzeit.
Auch uns ist es vergönnt aus dem ernsten Präparirzimmer von Zeit zu Zeit in die
reinere Luft und die heiteren Räume der Kunst uns zu begeben und im Verkehr mit geistvollen
, in anderer Richtung die Natur betrachtenden Männern Anregung, Belehrung und wohl-
thätige Erfrischung zu finden.
Der Actsaal mit seinen Modellen ist eine treffliche von den Anatomen nur zu wenig
gewürdigte Quelle der Belehrung. Die bewegte lebendige Körperform, die unter ihrer Hülle sich
bewegenden, hier und da an die Oberfläche hervortretenden und dann wieder verschwindenden
Skelettheile, endlich die vielfach sich verschiebenden und zu mannichfachen Gruppen sich vereinigenden
Muskeln geben dem Anatomen ein so klares durchsichtiges Bild vom lebendigen Spiel
dieser Systeme, wie es die starre Leiche zu gewähren nie im Stande ist. — Vor einer Reihe
von Jahren lernte ich bei den Künstlern die Zweckmässigkeit des Zeichnens beim anatomischen
Unterricht kennen und machte die Fachgenossen hierauf aufmerksam (Zeitschrift für rationelle
Medicin IV. Jahrg. 1. Heft). In der neueren Zeit habe ich im Actsaal den Werth des Modells
für anatomische Demonstrationen kennen gelernt, und möchte auch dieses meinen Fachgenossen
bei ihren Vorlesungen angelegentlichst empfehlen.
Es musste daher schon die Dankbarkeit mich nöthigen, schöne unserer Anatomie zukommende
jugendliche Körper den Künstlern zum Studium zu überlassen, und so entspreche ich
denn auch heute ihrem Wunsche, diese ursprünglich für meine Vorlesungen angefertigten, in vorliegender
Grösse aber Hochverehrten Männern und Freunden als Festgabe dargebrachten Zeichnungen
zu ihrem Studium mit den nöthigsten Erklärungen in leicht fasslicher Form zu versehen.
Hierzu fand ich mich aber auch noch dadurch berechtigt, dass eine plastische Anatomie
eines weiblichen Körpers noch nicht existirt, und daher den meisten Künstlern die hier vorkommenden
Verhältnisse weniger bekannt sind. Ausserdem darf ich bemerken, dass keine
anatomischen Abbildungen von brauchbarer Grösse existiren, bei welchen der Bau der innern
Theile mit der äussern Oberfläche in einen untrennbaren naturgetreuen Zusammenhang gebracht
wäre, woher es kommt, dass der für seine Vorwürfe Belehrung suchende Künstler in den meist
zu kleinen und dadurch ungenügenden Abbildungen stets die Hautbekleidung vermisst.
Allerdings stellt sich die Wissenschaft die Aufgabe, nach den Typen, nach dem Gedanken
Gottes, wie Goethe sagt, zu forschen, und jene Männer betraten den Weg, für den Menschen
die typische Form zu erstreben. — Allein haben sie dieselbe gefunden? Ist sie etwa durch
Messungen und Beobachtungen an einer grossen Anzahl von Individuen festgestellt? Dieses
müssen wir verneinen — die von jenen Anatomen vorgeführten Körper haben nicht gelebt, sie
sind in ihren einzelnen Theilen zusammengesetzt und ist so das von mehreren Seiten genommene
Schöne zu einem Ganzen verbunden. Ihre Darstellungen werden wohl für alle Zeiten die
höchste Anerkennung finden, allein es gebricht ihnen doch immer an innerer Wahrheit.
Abgesehen nämlich davon, dass das bei Albin auftretende so oft copirte männliche Skelet
naturwidrig in seiner Beckenstellung ist, wissen wir ja noch gar nicht, ob nicht vielleicht diese
Form des Beckens mit jenem Rumpf oder jenem Schädel nothwendig vereinigt sein muss, oder
ob nicht ein Gesetz, ein bestimmtes Verhältniss zwischen Rumpf und Extremitäten aufzufinden
ist. Und wenn dieses noch nicht von den Haupttheilen des Körpers, so ist es noch weniger
von den Zwischengliedern gefunden. Alle Aussprüche, die hier geschehen, sind Ausdrücke der
Phantasie, des ästhetischen Gefühls und der subjectiven Auffassung.
Der Wissenschaft, die immer weiter in die Breite und die Tiefe fortschreitet, wollen
Schemen nicht mehr dienen. Sie verlangt Reales, eine genaue und gründliche Vergleichung
bis ins Einzelne, und benutzt hierzu ein stets sich mehrendes und vergrösserndes Material.
Sie macht aufmerksam auf feinere Unterschiede der Gestaltung und Form im Einzelnen und
Ganzen. In dieser Richtung vergleicht sie die Lebensalter, die- Rassen, die Völker der Gegenwart
mit denen der Vergangenheit und der den Erdschichten entsteigenden Vorzeit.
Bei diesen Untersuchungen überzeugt sich aber der Forscher schon frühzeitig, wie stets
schwieriger es wird, die typische Form des Menschen zu finden. — Ja die Wissenschaft betritt
neuerdings Bahnen, auf welchen jenes Ziel zu erreichen immer zweifelhafter und unwahrscheinlicher
wird.
Ist dem nun aber so, dann muss es hinreichend gerechtfertigt sein, sich an die reale
Natur zu halten und diese, wenn immer schön, für das Studium aufzuzeichnen. Soll aber
dieses geschehen, so muss möglichst treu und genau, ohne jede Zugabe des subjectiven Gefühls
und Urtheils, das Vorhandene wiedergegeben werden, und dieses wird nur allein durch die
geometrische Darstellung zu erreichen sein.
Ich gebe also' streng geometrisch gezeichnete Naturkörper und überlasse es nun dem
Künstler, nach seinen Anschauungen, nach seiner Aufgabe und nach seinem Bedürfniss zu mehren
und zu mindern. Immer aber werden die Blätter ihm zeigen, dass trotz mangelhafter Technik
und trotz mancher Unvollkommenheiten der Bildung die Natur in ihrer treuen Nachahmung
gar nicht verdorben werden kann, und dass diese Zeichnungen durch Wahrheit, Masse und
Einfachheit noch mehr imponiren, als manche kunstreich dargestellten Bilder, denen die
Prätension der Schönheit an der Stirne steht.
Indem ich aber dieses behaupte, fühle ich mich genöthigt gegen die Unterstellung mich
zu verwahren, als ob ich den Künstlern hier Muster von Schönheit vorführen wollte. Meine
Absicht ist: dem Künstler Gelegenheit zu geben, sich auf kürzestem Weg-e Klarheit und
Sicherheit bei Beurtheilung der zur Erscheinung tretenden Fo rmen seines Modells zu verschaffen.
Ich gebe ihm hierzu in geometrischer Projection die Körper zweier jungen Mädchen, die
wenigstens an Schönheit die besten der gewöhnlichen Modelle übertreffen. Ich führe ihm diese
Körper vor in innigster Verknüpfung der naturgemäss gelagerten Skelettheile mit ihren Muskeln
und ihrer Hülle. Der denkende und mit Bewusstsein schaffende Künstler soll an diesen
geometrischen Aufrissen manche Fragen, die er an die Natur und die AVahrheit stellt, richtig
beantwortet finden, und so vor Unsicherheit und fehlerhaften Zeichnungen möglichst bewahrt
bleiben.
Es möchte wohl die Frage sehr nahe liegen, warum nur der Torso und nicht auch die
Glieder in nachfolgenden Bildern erscheinen, da doch die Darstellung dieser dem Künstler
von ganz besonderem AVerthe? Ich bedaure es vielleicht am meisten, dass ich kein Ganzes,
sondern nur Theile gebe, allein eine vollständige Bearbeitung der ersten Leiche, welche durch
schönen Gliederbau, wie H. Hasselhorst7s Bild (Eine plastisch anatomische Studie, Keller,
Frankfurt a|M. 1866) beweist, ausgezeichnet war, wurde mir durch Umstände, welche ich in
der Dedication an E. v. Bär angedeutet, vereitelt. Die zweite Leiche aber war nicht in allen
ihren Theilen zur Nachbildung gleich empfehlenswerth. Von sehr competenter Seite wurde mir
daher, um doch diesmal wenigssens etwas Ganzes zu bekommen, gerathen, jene Unvollkommen-
heit in der Zeichnung zu verbessern, die schmächtigen Muskeln zu kräftigen und weniger die
Leiche, als den lebenden Körper im Auge zu haben.
Ich wäre in der That gerade meiner wichtigsten Aufgabe, der Natur vollkommen zu
genügen, untreu geworden, hätte ich solchem Ansinnen Gehör gegeben. Eine Unwahrheit an
einer Stelle begonnen hätte mich aber nothwendig zu weiteren Lügen geführt. Mit dem
pathologischen Knochen musste nothwendig auch der atrophische Muskel reparirt werden und
mit den kräftigeren Muskeln musste eine Fülle der Hautgebilde in Uebereinstimmung sein, und
so wäre aus einem Fehler nothwendig der zweite und dritte entstanden. * Was aber an der einen
Ansicht begonnen war, das musste an der andern in ein entsprechendes Verhältniss gebracht
werden und so wäre, statt einer richtigen Copie der Natur, ein krampfhaft erscheinendes
Zerrbild entstanden.
In gleiche Widersprüche würde ich gerathen sein, hätte ich die Leiche scheinbar
lebend darstellen wTollen, wie in extremster Weise von den Künstlern in den Werken eines
Vesal, Casserius etc. geschehen, woselbst geschundene Menschenkörper gehen, stehen, oder
in schmerzhaften Wehen sich krümmen. Mögen mir deshalb hier nur einige Bemerkungen
erlaubt sein.
Der Muskel der Leiche und der Muskel des Lebenden verhalten sich gerade in ent-
gegengesetzter Richtung. Hebt der lebende Muskel das Glied, so schwillt er an, verkürzt sich
und verändert seine Form bezüglich seiner früheren Ruhe. Hebt man dagegen in gleicher
Richtung dasselbe Glied einer Leiche, so wird der Muskel nicht verkürzt, so schwillt er nicht
an und contrahirt sich nicht. Im Gegentheil er erschlafft, sinkt zusammen und legt sich in
Falten. Deshalb ist auch gerade die Erschlaffung eines Muskels bei dieser oder jener Stellung
eines todten Gliedes dem Anatomen ein Fingerzeige für die Thätigkeit dieses Muskels im Leben*).
Indem nun aber die thätige Form der Muskeln im Leben nur durch die Haut verhüllt zur
Wahrnehmung kommt, so ist es ' auch natürlich, dass wir die genauere Modellirung derselben
nicht kennen.
Da ich mich demnach ausser Stand fühlte der Naturtreue ungerecht zu werden, anderer
Seits mich doch auch nicht entschliessen konnte etwas Unschönes wiederzugeben, so musste
ich mich mit der Darstellung des Torso begnügen. Dass aber dieser richtig dargestellt ist,
davon kann sich jeder überzeugen, der die verschiedenen Ansichten mit einander vergleicht**).
*) Eine eingehende Betrachtung unserer Muskelkörper wird das Gesagte hinreichend bestätigen.
**) Wenn dagegen die Rückenansicht des zweiten Mädchens eine den beiden andern nicht entsprechende
Kopf- und Schädelstellung zeigt, so hat dieses darin seinen Grund, dass, nachdem die Kückenansicht schon lithographirt
war, ich mich erst entschlossen hatte, auch den Kopf dem Rumpfe beizufügen. Beim Zeichnen jener jedoch hatte ich
die den übrigen entsprechende Stellung ausser Acht gelassen. — Wenn "aber ferner die durchschnittenen Hautstücke an
dem Muskclkörper mit den Contouren der Haut der andern Blätter nicht ganz und gar übereinstimmend sind, so muss
man berücksichtigen, dass der aus dem Zusammenhang gebrachte, rings freigelegte Hautlappen sich gewöhnlich verzieht.
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