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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1949-01/0006
Die Markgrafschaft

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AUF DER STRASSE

Eine Kindheitserinnerung von Lina Ritter-Elsass

Johann Peter Hebel — dieser Name ist wie ein goldener
Faden in meine ganze Jugend eingewebt. Schon auf
den Knien der Mutter lauschte ich mit atemloser Andacht
den Hebelversen, weil eine unendliche Ehrfurcht,
eine schöpferische Freude ob solch begnadetem Dichter
aus der Stimme der Mutter sprach. Unzählige Male stand
sie mit mir vor Hebels Geburtshaus in Basel, und erzählte
' mir alles, was von seiner Jugend und seinem
Schaffen zu berichten war. Kein Tun in unserem Alltag,
kein Ereignis in unserem Leben, das nicht mit einem
Lied, oder einem weisen Vers des Dichters begleitet
wurde.

Auch ich hatte meinen Vater früh verloren, auch meine
Mutter trug das Leben allein tapfer weiter und meisterte
es. Aus den ersten Jahren ihrer Witwenschaft stammt
mein erschütterndstes Hebelerlebnis, und das kam so:

Alle Felder meines Dorfes waren große und fruchtbare
Gemüseplantagen; die Ernte ging täglich oder in regelmäßigen
Lieferungen nach dem Elsaß, der Schweiz und
„ins Badische" hinüber. Die Familien schienen jahrhundertelange
Privilegien für dieses oder jenes Absatzgebiet
zu haben — wehe, wenn jemand wagte, das vom
Urahn vererbte Marktrecht für sich in Anspruch zu
nehmen!

Meine Sippe ging seit Hebels Zeiten einmal wöchentlich
ins Wiesental; eine Tante versorgte Lörrach, eine
andere Schopf heim; mein Vater selber hatte sich in
jugendlicher Kühnheit von Zell, dem vom Großvater
ererbten Markt, bis Todtnau vorgetastet und überließ
der blutjungen Witwe das ganze hintere Wiesental mit
seinen aufblühenden Höhenkurorten als alleinige Herrschaft
. Im Sommer, wenn die Ernte groß war, fuhr man
anfangs der neunziger Jahre noch mit dem Planwagen
gegen Mitternacht daheim fort, um dann am frühen
Morgen in den schwarzen Bergen die frische Ware auszupacken
. Gewöhnlich luden zwei Brüder zusammen,
oder der Schwager fuhr gleich hinterher mit seiner
Ladung. Man wollte sich gegenseitig helfen können,
wenn ein Roß versagen oder ein Gewitter die gefährlich
wachsende Wiese unpassierbar machen müßte. Am andern
Abend spät fuhren die Wagen wieder im Dorf ein,
und uns Kindern war jedesmal zu Mute, als kämen sie
aus einer geheimnisvollen Weltenferne zurück.

An einem heißen Sommerabend hockte ich auf einem
Stein vor dem Dorf und wartete sehnsüchtig auf meine
Mutter. Entgegen ihrer sonstigen Herzlichkeit küßte sie
mich nur so obenhin und bedeutete mir, artig zu sein:
im Wagen liege die Tante krank, eine Schwester meines
Vaters, die gestern im eigenen Wagen ins Wiesental
gefahren war.

Ich verstummte vor dem herben, fast harten Ausdruck
in den Augen meiner Mutter und schmiegte mich wortlos
an die Schweigsame. Im Hof angekommen, luden sie
die Kranke behutsam aus. In ihren Armen trug sie ein
kleines Kind.

Abends, als ich am Tisch eingeschlafen schien, erzählte
meine Mutter ihrer Schwester: „Sie sagte es ihm vor
dem Abfahren, sie habe ausgezählt. Aber er lachte sie
aus und meinte, sie habe sich bei den vier Kindern
vorher auch immer verrechnet. Das schöne Gemüse dürfe
doch nicht kaput gehen bei der Hitze! Alles, was sie bei
dem Rohling erreichen konnte, war, daß er mitfuhr.
Hinter Lörrach — ich betrachtete gerade das Schloß
Rötteln, wie es im Vollmondschein so schön dalag —,
hörte ich einen Schrei aus dem Wagen vor mir, und noch
einen. Der Wagen hielt, ich stellte unsere Schimmel

auch und lief hin. Die Lies lag in dem Wagen____ Ich

wußte, wie schnell es immer bei ihr ging, es war zu
weit bis zur nächsten Hebamme. Der Mann stand hilflos
dabei und versteckte sein Schuldbewußtsein hinter leisem
Fluchen. Das verzeihe ich dem Kerl nie, daß er
seine Frau in eine solche Lage brachte! Wie eine Zigeunerin
mußte sie auf der Landstraße gebären! Ich jagte
ihn zu meinem Wagen, bettete die Wöchnerin besser,
und wollte mit ihr weiter — aber dann schrie sie wieder,
und ich konnte nicht abfahren. Der Dolfi ließ meine

armen Schimmel vorwärts rasen, und als die Hebamme
auf dem Rad herankam, war eben im Wagen ein kräftiger
Bub angekommen."

Meine Mutter ging nicht zur Taufe, blieb die ganze
Woche wortkarg; das Erlebnis auf der Landstraße hatte
ihren Bauernstolz und ihre innerste Frauenwürde verletzt
. Am nächsten Freitag fuhr sie allein mit hochbela-

Rebhäusdien im Reggenhag

Federzeichnung von F. Fischer

denem Wagen in die Sommernacht hinaus; Furcht hatte
sie keine, sie fühlte den Geist ihres Liebsten immer
schützend um sich.

Am Samstag abend ging ich ihr bis an die Rheinbrücke
entgegen; die Sehnsucht nach ihr drohte wieder .einmal
die Wände meines Körperchens zu sprengen. Sie winkte
mir schon vom badischen Ufer aus zu, und hatte, als ich
jauchzend zu ihr in den fahrenden Wagen sprang, ein
gelöstes Antlitz, eine neue Seligkeit in den Augen. Ich
fand sie so wunderschön, so mächtig, wie sie aus dem
Bogenrund herausschaute; damals vielleicht zum ersten
Male, wie nachher immer, machte sie mich Fünfjährige
zur ebenbürtigen Vertrauten: „Maidele, ich habe' etwas
Großes erfahren! Du weißt doch, der Tante Lies hat
letzten Freitag nacht die weise Frau ein Kindlein in den
Blachewagen gebracht. Denke dir, wo das geschehen
ist: ganz genau an jener Stelle, wo vor hundertzwanzig
Jahren die Mutter von Johann Peter Hebel gestorben ist!
Auf der Landstraße zwischen Lörrach und Haagen starb
die Mutter eines ganz großen Mannes, und am gleichen

x xai/Z. ucrvcun eine cinvicic mutici

1J.11 XVi.llU.ldil III V11C

Arme gelegt. Das hat mich so getröstet, Kind."

„Wer hat es dir denn gesagt, Mutterle?"

„E>ie feine Fabrikantenfrau in Zell, die mich immer
wie ihresgleichen aufnimmt und mir eigenhändig einen
heißen Kaffee macht, wenn ich die ganze Nacht gefahren
bin. Ihr habe ich von der letzten Freitagnacht erzählt,
und sie fragte mich genau nach dem Ort. Da sie unseren
Peter Hebel so liebt wie wir, weiß sie alles von ihm,
auch daß man seine schwerkranke Mutter von Basel nach
Hausen heimholen wollte, und sie vorher von den Engeln
in den Himmel getragen wurde. Meinst du nicht, Maidele
, daß der Ort, wo dies geschah, heilig ist und bleibt?
Daß jede andere Mutter an diesem Ort gesegnet wird?"


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