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DIE MARKGRAFSCHAFT
Nr. 4 / 2. Jahrgang Monatszeitschrift für das Markgräflerland
April 1950
f
In einer stillen Markgräfler Studierstube hängt
ein Bild, das eine oberrheinische Landschaft darstellt
. Der Rhein ist vom Künstler keineswegs als
Grenze aufgefaßt worden. Der Betrachter wird
vielmehr eingeladen, seinen Blick über die Schönheit
einer großen Gartenlandschaft schweifen zu
lassen, die von einem lebendigen Strom durchflössen
, aber nicht geteilt wird. Über diesem Bild
hängt eine alte gute Uhr mit Gewichten und
einem langen Pendel, das in ruhigem Gleichmaß
von diesseits nach jenseits des Rheines geht und
wieder zurück, während die Zeiger der Uhr gemächlich
aber stetig vorrücken. Der Eindruck,
durch eine wohl zufällige Anbringung von Bild
und Uhr hervorgerufen, ist verblüffend. Ohne
einen übermäßigen Hang zum Meditieren zu
haben,' wird der Besucher unwillkürlich zu einigen
Betrachtungen angeregt, um so mehr, als die
große Politik gegenwärtig an eben diesem Strom,
in der alten Stadt Straßburg, den Versuch unternimmt
, den Grundstein zu einem europäischen
Haus zu legen, in dem es weder eine Maginot-
linie noch einen Westwall gibt, in dem die Bewohner
Tür an Tür friedlich zusammenleben, in
einer gemeinsamen Hausordnung, die davon ausgeht
, daß Rechte und Pflichten gleichmäßig verteilt
sein müssen. Da aber bereits kommt der
Betrachter ins Gübeln. Wie viele Male, so frägt
er sich, wird das Pendel hinüber- und herübergehen
, wie viele Stunden wohl wird jene alte Uhr
in der stillen Stube schlagen, wieviel Wasser wird
noch durch den „Garten Gottes" fließen, bis das
Haus in Straßburg stürm- und wetterfest gebaut
ist, jenes Haus, das man ,,Europa" getauft hat,
bevor noch die Grundmauern stehen und an dem
unlustige Handwerker mit untauglichen Mitteln
bauen? Denkt der Zeitgenosse aber weiter, an die
gerechte Hausordnung nämlich, ohne die das
Haus ja auch keinen Sinn hätte, so wird ihm der
Pendelschlag und das Vorrücken der Zeiger leicht
ungemütlich. „Gerechtigkeit schafft Frieden", dieser
lapidare Satz, im Rheinland in übergroßen
Lettern geschrieben, verlangt nach Wirklichkeit.
Aber wo kann die Gerechtigkeit in unseren Tagen
beginnen? An der Saar z. B. begann sie
sicherlich nicht. Eher wäre man berechtigt zu
sagen, daß man dort mit einer jener endgültigen
Ungerechtigkeiten begonnen hat, die weder mit
gutem Willen noch mit Vernunft etwas zu tun
haben und die geeignet sind, Möglichkeiten zu
verbauen, an die die Gutwilligen doch noch glauben
möchten. Denn man kann ja wohl eine Ungerechtigkeit
dieser Art nicht vorläufig begehen,
weil man einen Arm oder einen Kopf auch nicht
provisorisch abschlagen kann; sie wachsen ja
schließlich nicht nach wie Unkraut.
Der Zeitgenosse möchte sich an den Kopf greifen
, so lange er überhaupt noch an diesem Spiel
interessiert ist. Wenn Gerechtigkeit Frieden
schafft, so meditiert er weiter, dann schafft
Ungerechtigkeit Unfrieden. Aber warum es zu
dieser Ungerechtigkeit kommen muß, ist damit
noch nicht beantwortet. Schicksal? Unvernunft,
Machtgier oder pure Bosheit der Regierenden?
Oder einfach, weil die Regierenden zu alt sind,
zu unentschlossen, ohne Einfälle, weil sie nicht
über ihren kleinen Schatten springen können?
Oder weil sie nur an ihre Pension denken? Wer
mag das Richtige treffen? Vielleicht, weil es gar
keine Demokratie gibt, sondern nur Strohmänner,
hinter denen die Dämonen unserer Zeit stehen,
wer mag es beweisen?
Inzwischen fließt der Strom weiter und weiter
zwischen der gesegneten Landschaft, die kostspieligen
Konferenzen gehen weiter, die Zei-r
tungssensationen ernähren ihren Mann, die
Hungernden hungern weiter, die Heimatlosen
sind weiter heimatlos, die Grenzen sind weiter
gesperrt, die unverschämten Steuern sollen weiter
bezahlt werden, die Dummheit feiert rauschende
Feste. Aber auch der Zeiger rückt weiter
vor, und niemand kennt die Stunde, in der eine
Hand alle Pendel stille hält. Jedermann ist sich
klar,* daß die Völker keinen Krieg wollen. Aber
wer frägt nach den Völkern? Im Westen rechnet
man für einen Menschen einige Dollar. Im Osten
so und so viel Arbeitsstunden. In Straßburg rechnet
man mit den Beiträgen, die von den Mitgliedsstaaten
an den „Rat" entrichtet werden sollen,
nächstens auch von Deutschland. Dem Zeitgenossen
wird es tatsächlich bange, ob die Rechnung
aufgeht. l. Börsig.
Wir halten uns niemals an die Gegenwart. Wir nehmen
die Zukunft vorweg, als käme sie zu langsam, als
müßten wir ihren Gang beschleunigen; oder wir rufen
die Vergangenheit zurück, um sie anzuhalten, als entschwände
sie zu jäh: so töricht sind wir, daß wir in den
Zeiten herumirren, die nicht unser sind, und nicht an
die einzige denken, die uns gehört; und s<y eitel, daß wir
, an die denken, die nichts sind, und ohne Überlegung der,
einzigen entfliehen, die existiert. So tun wir, weil die
Gegenwart uns gemeinhin verletzt. Wir verbergen sie
vor unserem Blick, weil sie uns quält; und wenn sie uns
angenehm ist, beklagen wir es, sie entfliehen zu sehen.
Wir versuchen, sie durch die Zukunft zu stützen, und
meinen, über die Dinge zu verfügen, di£ nicht in unserer
Macht sind, im Hinblick auf eine Zeit, die zu erreichen
wir keinerlei Sicherheit haben. Pascal.
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