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Die Markgrafschaft
D' Chilchemer Mueter / Von Lina Ritter
Genau weiß ich nicht, in welchem Jahr sie
heimgegangen ist; aber ihr Andenken lebt in
unserer Familie heute noch so lebendig wie damals
, da wir jahrelang in engster Verbindung
waren.
Anfangs der 90er Jahe stand auch unser Dorf
im Zeichen der sogenannten Gründer jähre. Zwei
Generationen vorher hatten sie die Fruchtbarkeit
eines Bodens entdeckt, der jahrhundertelang bei
Hochwasser überschwemmt und noch nie angebaut
worden war. Zuerst für die Offiziere und
Soldaten der Hüninger Garnison, später für die
auf so taufrisches Junggemüse setyr erpichten
Basler wurde das Feld zwischen den Rheininseln
in kleine Parzellen eingeteilt und Gemüse darauf
gezogen.
Diese Art Landwirtschaft erforderte nicht nur
alle köperliche Kraft und bedingte späten Feierabend
, sondern auch angespannte gedankliche Beschäftigung
mit Saatgut, Zeit des Auspflanzens,
Hacken und Jäten. Ich darf wohl ohne Überhebung
sagen, daß in meinem Heimatdorf die
Leute am frühesten aufstehen und am spätesten
schlafen gehen; das besinnliche Vor-dem-Haus-
sitzen gab es immer nur für Kinder und Kranke.
Selbst ältere Leute, die sich solche Bequemlichkeiten
erlaubten, wurden damals mitleidig belächelt
von den Tüchtigen.
Hatte man also einen eigenen Herd gegründet
und auf ererbtem oder zinsbarem Acker die
ersten Setzzwiebeln gesteckt, oder gar schon ein
Spargelfeld vorbereitet, hielt Auspflanzen, Ernten
, Umpflügen, Neuanbauen das junge Paar in
Atem, ganz abgesehen davon, daß die Frau noch
die Sachen für den Markt zu richten hatte* Da
war für Kleinkinder, so freudig sie erwartet wurden
, keine Zeit. Arbeiten konnte die Gesegnete
bis zur letzten Minute, verwöhnt wurde sie auch
ein paar Tage lang. Aber dann riefen die tausend
Köpfe Salat, die abgeschnitten sein mußten, die
jungen Rettiche, der erste zarte Rübkohl, oder
gar im Herbst die Fülle der Krautsorten, die
Millionen „alten" Zwiebeln, und noch viele andere
ausgewachsenen Gemüse. Da war auch das
liebste Kind im Wege. Heute mag uns das als
Roheit vorkommen, aber damals behielten wirklich
nur die ärmsten und inaktivsten Bewohner
des Dorfes ihre Kleinkinder bei sich. Alle fleißigen
und schaffrigen Leute gaben ihre Säuglinge,
wenigstens bis sie laufen und reden konnten, ,,in
d'Choscht".
Die idealsten Kosthäuser waren für unser Dorf
drüben im Badischen. Vielleicht weil es näher
war als in den hinteren Sundgau, wo die Bauern
auch so beschaulich zwischen Wiesen und Wälder
lebten, daß ihnen zur Kinderpflege noch Zeit verblieb
. Oder auch, weil in den Markgräflerdörfern
alles so sauber war, die Gassen, die Häuser, die
Stuben, auch das Vieh und die Ställe. *
So fuhr denn eines Sonntags auch die zweite
Tochter mit ihrer Mutter im Waidling über den
Rhein. Ich war das fünfjährige Mädelchen der
ältesten Tochter, die nach dem Tode ihres Mannes
in das Elternhaus zurückgekehrt war. Darum
durfte ich überall mit, wohin die Großmutter
ging. Vom jenseitigen Ufer liefen wir durch
niedrige Akazienwäldchen auf das Dorf Kirchen
zu und wurden im Hause gegenüber dem alten
Kirchturm liebevoll bewirtet. Schon damals hatte
ich einen starken Eindruck von der jungen
Bauernfrau: groß und kräftig, mit warmer Stimme
und guten Augen. Es liefen zwei Kleinkinder
herum, ein drittes lag in der Wiege. Alles atmete
Sauberkeit, Frieden und Ruhe.
Dann bekam die geliebte Lina-Basi ein Mädelchen
, und es war schön auf der Taufe eine Woche
später. Am nächsten Sonntag ging es wieder über
den Rhein, das kleine Linele lag im Steckkissen
und schlief. Wieder warmer Empfang und Bestaunen
des kleinen Erdenwunders. Dann wurde
es Dämmerung, und wir mußten eilends zum
Waidling zurück. Die Lina-Basi weinte still vor
sich hin. Ewig sehe ich sie im Schifflein sitzen,
mit verschlungenen Händen unter der schwarzseidenen
Sonntagsschürze. Die Großmama tröstete
sie: „Es sind doch rechte Leute! Man sieht es doch
der jungen Frau von weitem an, daß sie auch dem
Linele eine gute Mutter sein wird!"
Im Winter alle Sonntage, im Sommer wenigstens
zweimal im Monat fuhren wir dann hinüber
, um das Linele „in dr Choscht" zu besuchen.
Das Kind gedieh prächtig, und hing mit allen
Fasern an seiner „Mueter". Wenn die richtige
Mama kam, gab es wohl gut erzogen die Hand,
ließ sich nach einer Weile auch auf den Schoß
nehmen. Aber die schönsten Zärtlichkeiten behielt
es für seine Mueter.
Es vergingen die Monde, das Lineli konnte laufen
und reden, man beschloß, es heimzunehmen.
Diesmal war es die Chilchemer Mueter, die
weinte, obwohl inzwischen fünf eigene Kinder um
sie waren.
In den ersten Wochen vertrug sich das Lineli
schlecht im Elternhaus: immer verlangte es stürmisch
nach der „Chilchemer Mueter". Man ging
des Kindes willen jeden Sonntag hinüber, ließ es
auch im Herbst über die dringendsten Arbeiten
in den Ferien bei seinen Pflegeeltern. Aber wenn
die Lina-Basi nicht eine so großzügige, tiefinnerliche
und vor allem im Schweigen grandiose Frau
gewesen wäre, sie hätte den Jubel Klein-Linele's
beim Erblicken der Störche auf dem Kirchturm,
die Seligkeit bei der ersten Umarmung ihrer
„Mueter", die bitteren Abschiedstränen bei jeder
Trennung nicht ertragen.
Die Jahre gingen, die Freundschaft blieb. Das
Nesthäkchen der Lina-Basi wurde der Chilchemer
Mueter auch gebracht, absolvierte die zwei Jahre
dort und kam ins Elternhaus zurück, ohne daß
die gegenseitige Liebe das natürliche Maß der
Zärtlichkeit je überschritten hätte, wie beim
Linele. Lange Jahre lebte dies zarte Wesen im
Elternhaus eigentlich nur in der Vorfreude auf
die Zeit in Kirchen. Die Kinder ihrer Mueter
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