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Die I&arkgrafschaft
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wurden groß, verliebten, verlobten sich, heirateten
; unser Linele machte alle Familienangelegenheiten
drüben mit absoluter Anteilnahme mit. Der
älteste Sohn Ehrhard, einst ihr Gespiele, bekam
selber Kinder, desgleichen die Anna, die Frieda;
keiner kannte sich in der Genealogie dieses badischen
Hauses besser aus als das Linele. Und wie
sie uns den Geist dieser Familie schildern konnte!
So ein sehaffriger, braver Hausvater gab es auf
der ganzen Welt nicht mehr, so gehorsam waren
keine anderen Kinder, so gut und froh wie
dJChilchemer Mueter war keine andere Frau auf
Erden.
Unvergeßlichen Eindruck machten auf mich die
Berichte des Kindes und später der erwachsenen
Base über die Art der Wohltätigkeit, welche die
prächtige Markgräflerin pflegte: so geheim und
schweigend, wie es nur möglich war. Sie teilte
großzügig aus, aber ihre Linke durfte nicht wissen
, was die Rechte tat. Sie schickte die älteren
Kinder, die sie auf ihre Kraft zu schweigen, erprobt
hatte, mit Vorliebe des Nachts zu den
Armen und Kranken, denen sie auf wohlbedachte
Weise half. Aber man durfte die Stärkungsmittel,
den. Wein, den Anken oder den Ackerzins nicht
abgeben, sondern vor die Türe stellen, oder durch
das offene Fenster auf den Tisch legen. „Weil
unser Herrgott bei uns ist, darum gedeiht unserer
Hände Werk. E r gibt, wir sind nur seine Arme
und Augen. Weil wir dies wissen, können wir so
froh sein!", pflegte sie zu sagen.
Die Markgräfler sind protestantisch, wir von
,,äne am Bächle" katholisch. Aber nicht einen
Augenblick lang hätten wir uns im Hause der
Chilchemer Mueter an etwas gestoßen, was unserem
religiösen Gefühl weh getan hätte. Mann
und Frau waren sehr fromm und erzogen ihre
Kinder zu wahrhaft vorbildlichen Christen. Wir
begleiteten sie oft in ihr Gotteshaus, vor dessen
Alter mich immer ehrfürchtige Schauer umfingen.
Wir beteten mit ihnen ihr Tischgebet. Und wenn
sie uns auf der linken Rheinseite besuchten, nahmen
sie genau so natürlich an unseren kirchlichen
Gebräuchen teil. Die Una Sancta war hier auf die
schönste Weise verwirklicht und hatte ihre heilige
Wurzel in der natürlichen Liebe einer Mutter
zu einem Kinde.
Ich heiratete dann auch „über den Rhein" und
hörte in den folgenden Jahren nur noch bei Besuchen
daheim von Lineles Wahlverwandten.
Später einmal hieß es dann, der alte Ehrhard sei
eines friedlichen Todes gestorben, und ein andermal
: die Chilchemer Mueter sei ihm nachgegangen
. Ich habe das vielleicht auch nur geschrieben
bekommen; denn es wirbelte uns das Schicksal
tüchtig herum, und ich kam selten heim in jenen
Zeitläuften.
Aber das Erbe der Chilchemer Mueter wurde
nicht verbraucht: ihre Kinder und Enkel übernahmen
deren Liebe für das Linele mit einer
wunderbaren Selbstverständlichkeit. Im zweiten
Weltkrieg hätte es, trotzdem vor und nach dem
ersten keine Religionsspaltung möglich gewesen
war, fast politische Differenzen geben können,
• Aber es gab keine Entfremdung. Die Chilchemer
nahmen Rücksicht auf die Gefühle der Ausländerin
; das Linele begnügte sich, seiner Art
gemäß mit sanfter Stimme und zärtlich lächelnden
Augen Bedenken zu äußern.
Dann kam der Kriegsausbuch. Die fast ein
halbes Jahrhundert lang durch einen kleinen
Waidling jederzeit Verbundenen wurden jäh getrennt
. Das Letzte, was die Chilchemer hörten,
waren Berichte des Beromünster Senders: die
Dörfer des linken Rheinufers hätten binnen weniger
Stunden geräumt werden müssen, die Bewohner
befänden sich mit Roß und Wagen auf
dem Weg ins Innere Frankreichs. Es verging
sicher kein Tag in diesen ersten Kriegsmonaten,
wo beide Familien nicht aneinander gedacht und
füreinander gebetet haben. Auch die Chilchemer
wußten keine Stunde, ob der Höllentanz nicht losgehe
. Tausend Kanonenrohre waren drüben
sicher auf sie gerichtet. Aber es blieb vorderhand
ruhig an dieser südlichsten Grenzfront.
Dann kam der deutsche Rheinübergang, die
Besetzung des Elsaßes. Allnächtlich, wenn es auf
den Gassen ruhig war, hockten sie im Hause der
Chilchemer Mueter ganz nah vor dem Radio und
hörten das leise eingestellte Beromünster, um
endlich zü erfahren, ob die Grenzbevölkerung
zurückkehre. Einmal stand Ehrhards Älteste auf
dem Kirchhof vor dem Grab der Großmutter. Da
war es ihr, als höre sie die helle, von Licht und
Himmelswärme durchflutete Stimme: „Geh* hinüber
und bring' ihnen etwas zu essen!"
Hinüber — um Gotteswillen! Alle hundert
Meter ist ein Bunker, mit hunderten von Maschinengewehren
! dachte das junge Mädchen. Aber
es erzählte den starken Eindruck doch dem jungen
Soldaten, der bei ihnen einquartiert war.
Weniger weil sie einen Rat von ihm erwartete,
als daß ein Dritter ihr die Unmöglichkeit, Groß-
mutters Befehl auszuführen, bestätigen sollte.
Der junge Soldat wagte den Übergang, und es
geschah ihm nichts. So sehr vertraute er dem
schützenden Geist der Chilchemer Mueter, daß
er fast sorglos durch das Koepfele schritt, dann
den Rheinweg hinauf bis zu den Häusern: schräg
der Kirche gegenüber sei das Elternhaus des
Linele, hatte ihm sein heimlich geliebtes Mädchen
gesagt.
Auf den Feldern standen die Melden haushoch.
Den jungen Bauer erbarmte die Verwahrlosung
der Äcker; er wußte von seinen Quartierleuten,
welch reiche Ernten hier vorher gezogen wurden.
Totenstille umgab ihn, als er das Dorf erreicht
hatte. Die Häuser lagen verödet, manche zeigten
geschlossene Läden, bei anderen standen die
Haustüren weit offen. Der junge Mann ging
tastenden Schrittes vorwärts — waren nicht einmal
Soldaten hier einquartiert? Er stand vor dem
Haus, das der Beschreibung nach dem Linele gehören
mußte. Kein Mensch meldete sich auf sein
leises Rufen. Während er noch überlegte, ob er
das Pfündlein Anken und das Säcklein Mehl hier
lassen oder wieder mitnehmen solle, hörte er
plötzlich Motorengeräusch. Rasch duckte er sich
zwischen Haus und Scheune, sah einen Personenwagen
halten und einen Zivilisten den Hof betreten
. Dieser nickte vor sich hin, als er die Haus-
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