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Die Markgrafschaft
D' Chikhemer Mueter
(Schluß von S. 4)
lieh gestorben, die Gute?" fragte ich. „Konntest
du zur Beerdigung damals hinübergehen, Linele?"
Die schwarzen Strahlenaugen des Wesens, das
immer noch wie ein junges Mädchen aussieht,
leuchteten auf: „Ja, alle waren wir um sie versammelt
, am ersten Abend schon. Sie lag wie
eine Königin aufgebahrt, mit frischen Farben, als
schlafe sie sich gesund".
„Sie muß doch über siebzig gewesen sein — "
„Nah an den Achtzig. In den letzten Jahren
lief sie gebückt; sie war vom vielen Schaffen
ganz krumm geworden".
„Ich habe sie als große, stattliche Frau in Erinnerung
— "
„So wurde sie auch wieder im Todesschlaf. Ob
ihr es glaubt oder nicht: ich merkte es schon in
der ersten Nacht, die andern bei der zweiten
Wache ganz deutlich: ihre Gestalt hatte sich wieder
gestreckt, eben weil es für Menschen, die wie
die Chilchemer Mueter wirklich nach Christi
Lehre leben, kein Totenbett ist, sondern ein
Lager, von dem man verwandelt aufsteht!"
Die Basen schauten ehrfürchtig auf ihr hellseherisches
Schwesterlein, und ich blieb vor Staunen
über die fortwirkende Kraft dieser Bindung
stumm. Das Lineli, sonst so schweigsam, fuhr
begeistert fort: „Und ein Wohlgeruch erfüllte die
Sterbekammer, lang bevor der erste Kranz kam,
und war von ganz anderem Duft, als unsere
schönsten Blumen ihn auszuströmen vermöchten,
und verbreitete sich im ganzen Haus und Garten".
„Merkten das die anderen auch?"
„Ja, natürlich. Weil die Chilchemer Mueter alles
Gute im geheimen tat, ließ es unser Herrgott sich
angelegen sein, sie selbst abzuholen, und es uns
offen mitzuteilen!"
Damit schloß das Linele seinen vorher noch nie
mitgeteilten Bericht, und ging heiter lächelnd aus
der Stube.
„Wenn es nur mehr „Chilchemer Müeter" und
bei uns im Lande mehr Linele gäbe . . ", murmelte
ich.
„Das wäre gut für die beiden Völker, und für
die ganze Welt!" sinnierte die älteste der drei
Schwestern gleich leise.
„Vielleicht langt unserm Herrgott eine einzige
vollkommene Seele", fügte die Jüngste bei. Sie
war in der Familie bekannt, daß sie sehr selten
dreinredete, aber dann doch einmal den Punkt
auf das i setzte. „Wahrscheinlich hat Er anderes
Zeitmaß als wir. Vielleicht behütet uns auch
heute noch, wie auf der Flucht und im Bombenhagel
, uns alle diesseits und jenseits des Baches,
unsere Chilchemer Mueter . . . ".
Hebels Musik der Sprache / Von Richard Nutzinger
J. P. Hebel, der mit vielen Zweigen der Wissenschaft
und Kunst wohl vertraut war, scheint für
die edle Kunstgattung der Musik am wenigsten
Verständnis gehabt zu haben. Das bedeutet ja
nicht etwa, daß er unmusikalisch war, sondern
nur, daß diese schöne Kunst bei ihm nicht schon
in der Jugend richtig ausgebildet wurde. Nur in
zwei Ausprägungen hat er offenbar die Musik zu
schätzen gewußt, wie sie sich ihm in seiner Kindheit
darbot: im Gesang und im Spielmannszug.
Das fromme Lied hatte ihm seine Mutter schon
in der Wiege und dann dem heranwachsenden
Knaben so oft vorgesungen, und die Trommler
und Pfeifer kannte er wohl von der Basler Fasnacht
her, und war ihnen als Bub oft genug nachgesprungen
. Seine Straßburger Freundin, Sophie
Haufe, bekanntlich eine gebürtige Müllheimerin,
erzählt einmal in ihren Lebenserinnerungen, daß
Hebel gelegentlich eines Besuches in ihrem Hause
nicht zu bewegen war, sie in ein Konzert zu
begleiten. Er habe doch nichts von dieser klassischen
Musik, und Trommler und Pfeifer seien
ihm von Kindesbeinen an die liebsten Musikanten
.
Die Gastgeberin konnte diesen, nach ihrer Meinung
kindischen Geschmack an dem sonst so
klugen Manne gar nicht begreifen; doch wurde
sie entschädigt durch seine Vorliebe zu Chorälen,
die in ihrem Hause zur Morgenandacht gesungen
wurden. Unter diesen habe Hebel am meisten den
wuchtigen Choral geschätzt: ,,Wachet auf, ruft
uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der
Zinne". Und gerade die Betonung dieses Kirchenliedes
ist wiederum charakteristisch für Hebel.
Hatte er zwar eine rechte Freude daran, einige
seiner leichteren Musenkinder: wie „Hans und
Vrene" und den „Morgenstern" von Komponisten
seiner Zeit vertont zu wissen und etwa durch die
Schauspielerin Henriette Hendel - Schütz seinen
„Schwarzwälder im Breisgau", also das ,,Z' Mülle
an der Post" im Karlsruher Stadttheater singen
zu hören, im letzten Grunde war dieser scheinbar
unmusikalische Dichter doch ein großer Sänger,
nämlich ein starker Wächter und Wachrufer in
all seinen ernsten Dichtungen. Wie läßt er doch
in der „Vergänglichkeit" den Ätti dem Bub berichten
vom letzten Morgen, der über die Erde
hereinbricht, und welche Anklänge hier an seinen
Lieblingschoral:
„Es goht e Wächter us um Mitternacht,
e fremde Maa; me weiß nit, wer er isch.
Er funklet wie ne Stern un rüeft: „Wacht auf!
Wacht auf! Es kommt der Tag!"
Uns dünkt doch wohl, er sei doch nicht so ein
ganz fremder Mann, dieser Wächter, ja wir wissen
heute, wer er ist: es ist unser Johann Peter
Hebel selbst, der große Erwecker, der uns ja in
jedem seiner ernsten Gedichte, wie im „Wächterruf
", in der „Vergänglichkeit", im „Wächter um
die Mitternacht" immer von dem Grauen der
Nacht auf den großen, herrlichen Morgen hinführt
. Und was seinem Ohr zu fehlen schien, das
finden wir gerade in solchen Versen wunderbar
ausgeprägt: eine Musik der Sprache, voll tiefer
Schönheit und vollem Klang. Und diesem Musiker
Hebel gilt es heute für uns wieder mit einem
feinen Ohr zu lauschen.
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