http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1950-07/0014
12
Die Markgrafschaft
Wie ein Obereggener den
Es mögen nun 60 Jahre her sein, als der Obereggener
Gustav Rein in die Fremde zog. Dorf
und Tal waren ihm zu eng geworden. Das Fernweh
nagte an seinem Herzen; er ertrug diese
Enge nicht mehr. — In der Frühe eines Sonntag
Morgens hängte er seinen Rucksack um, nahm
den schweren, eisenbeschlagenen Stock in die
Hand, und ging auf Schusters Rappen, sich die
Welt anzusehen. Vater und Mutter gaben ihm bis
vor das Dorf hinaus das Geleit. Unterwegs zählte
die Mutter auf, was sie an Wegzehrung in den
Rucksack gelegt; auch Starks Gebetbuch habe sie
ihm mitgegeben. „Bruuch's flissig", mahnte sie,
„un verlier in dr Fremdi 's Gottvertraue nit! Un
vornedri han-i das Versli vom Hebel gschriebe:
Un wenn de ame Ghrützweg stohsch,
un nümme waisch, wo's anegoht —
halt still un frog di Gwisse zerst,
's cha Dütsch, gottlob, un folg sim Rot!
I denk, de wirsch mengmol in die Lag cho, Bueb,
wo-des bruuche chasch! Vergiß au dr Heimweg
nit, Gustav, mer warte uff di!"
Mittlerweile waren sie an die letzten Häuser
des Ortes gekommen. Der Abschied fiel beiden
Teilen nicht leicht, aber tapfer schluckten sie das
Schwerwerden hinunter, und bald schritt Gustav
rüstig das Tal hinauf Kandern zu. Die beiden
Alten schauten ihm lange nach. Feierliche Stille
lag über Wald und Matten, und der junge Tag
warf seinen ersten goldenen Schimmer über das
schlafende Dorf. Wortlos betrachteten beide
Eltern das liebliche Bild, dann gingen sie ihrer
Behausung zu.
*Von Gustav hörten sie lange nichts mehr. Endlich
kam eine Karte aus Italien, auf der er den
Eltern mitteilte, daß es ihm gut gehe und er
manches Schöne schon gesehen habe. Dann wurde
es wieder lange Zeit still um ihn. Die nächste
Nachricht erhielten sie aus Barcelona in Spanien,
und nach sechs Monaten meldete ihnen ein Brief
aus Paris, daß es ihm dort sehr gut gefalle und
er bereits eine lohnende Stelle gefunden habe.
Auch sein Meister war mit dem fleißigen Mark-
gräfler wohl zufrieden und hatte Freude an dem
aufgeweckten, tüchtigen Burschen. Die Meisterin
mochte ihn ebenfalls gut leiden. Und wenn nach
Feierabend des Nachbars Töchterlein herüberkam
, da wurde es ihm nach und nach warm ums
Herz, und er konnte vergessen, daß er ein Fremdling
sei.
An das Leben und Treiben dieser Weltstadt
hatte er sich bald gewöhnt, besonders das Quartier
auf dem Montmartre hatte es ihm angetan.
Mit seinem Schannetli philosophierte er manchmal
darüber, wie leicht die Menschen hier mit
allem fertig würden, während daheim das Leben
viel problematischer sei.
Ein strenger Winter war dahingegangen. Nun
zog ein milder Frühling ins Land und ließ die
Welt die Unbilden der vergangenen harten Monate
vergessen. — Noch leichter pulsierte das
Heimweg fand / Fritz Wolfsberger
Leben in der französischen Metropole. In den
Parks von Paris blühten die Veilchen, und der
Krokus belebte mit seinen leuchtenden Farben
das junge Grün der wohlgepflegten Rasen. Auf
dem hohen Giebelhaus des Meisters flötete allmorgendlich
eine Amsel, und ihr Gesang weckte
in Gustav heimatliche Gedanken. „Jetz werde
deheim ball d'Chriese im Bluest stoh", dachte er,
und sah im Geist das Eggenertal im weißen Kleid
■» der Kirschenblüte. Aber an ein Heimgehen
dachte er nicht. Diesen Gedanken wollte er nicht
aufkommen lassen. Er war ja erst zwei Jahre in
der Fremde.
Einen Brief von daheim, den er vor wenigen
Tagen erhielt und in dem die Mutter ihn ans
Heimkommen erinnerte, hatte er wie ein abgetragenes
Kleid auf die Seite gelegt. Wozu auch
heimgehen? Hier lockte das Leben in tausänd
Bildern, und sein Schannetli bewies ihm täglich,
daß sie ohne ihren Gustav nicht leben konnte.
Auch die Zustellung des Stellungsbefehls durch
das Deutsche Konsulat in Paris konnte seinen
Entschluß, zu bleiben, nicht beeinflussen.
Als er aber nach Monaten zum zweiten Mal
aufgefordert wurde, sich zu melden und in einem
beigelegten Schreiben auf die Folgen seines
refraktären Verhaltens aufmerksam gemacht
wurde, war es ihm nicht mehr ganz wohl in
seiner Haut. Ein diesbezüglicher Brief von daheim
brachte ihn vollends aus der Ruhe.
An einem Sonntagmorgen ging er am Ufer der*
Seine spazieren. Buchhändler hatten dort ihre
Buden aufgeschlagen und boten mit lebhaften
Gesten den Vorübergehenden ihre Ware an. Sei
es nun, daß einer durch Gustavs Erscheinung in
ihm den Deutschen vermutete oder der Zufall
eine Rolle spielte, der Händler bot Gustav aufgeschlagen
Johann Peter Hebels Gedichtband zum
Kaufe an. Als er näher hinsah,* war es das Gedicht
„Der Wegweiser", das ihm hier eine fremde
Hand unter die Nase hielt. Ergriffen erstand er
das Buch — es war eine Erstausgabe Hebels —,
machte schleunigst Kehrt und eilte in seine Behausung
. Sofort packte er seine Siebensachen
zusammen und lief, ohne seinen Meister zu verständigen
, dem Bahnhof zu. Nicht einmal der
Gedanke an Schannet konnte ihn mehr halten.
Hebels gedrucktes Wort, die Mahnung in seiner
Muttersprache, hatte ihn so ergriffen, daß es ihm
unmöglich war, länger zu bleiben. Er fühlte sich
durch Hebels Verse persönlich angesprochen und
gewarnt. — Das heimatliche Tal, sein Elternhaus,
der massive Kirchturm seines Dorfes mit dem
behäbigen Alemannendach — er sah diese Bilder
der Heimat vor seinem inneren Auge, und sie
zogen den jungen Burschen mit unwiderstehlicher
^Gewalt fort aus der Fremde, heim ins
schöne Eggenertal, wo zwei treue Elternherzen
sehnsüchtig auf ihn warteten und täglich Ausschau
nach ihm gehalten hatten.
Als Gustav seine Militärzeit hinter sich hatte,
übersiedelte er nach Hamburg. Hebel aber und
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1950-07/0014