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Die Markgrafschaft
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Er spürte, daß ihm in seinem Dasein immer etwas
gefehlt hatte, ein Halt, eine Ermunterung, etwas
Lichtes und Anmutiges, das ihn abhalten hätte
können von schlimmen Affären. Den Zundelfrie-
der packte eine dunkle Ahnung, er habe auf seinem
Lebensweg eine falsche Richtung eingeschlagen
und darum nie das Glück erfahren, von dem
man ein so großes Wesen machte. Sein verbittertes
und hartes Herz wurde von lauen Wellen
umspült; er sehnte sich in diesem Augenblick
nach ein wenig Liebe, zu der es ihn sonst kaum
je gelockt hatte. Da saß nun an seinem Wege ein
blondes, holdes Geschöpf, das ihn aus blauen
Augen, wie ihm schien, nicht unfreundlich anblickte
. Er konnte nicht anders, als ihr ein höfliches
„Grüß Gott" entbieten, das sie gutmütig
erwiderte. Der Zundelfrieder aber, von solcher
Leutseligkeit überrascht und in seiner Seele aufgeschlossener
denn je, blieb stehen und bewunderte
in zierlicher Rede, wie sie ihm bisher nie
von den bärtigen Lippen floß, das Erdbeer-
sträußlein. Sibylle ging auf die Ansprache des ihr
unbekannten Kerls willig ein, sie sah in ihm,
wie sie es von ihrem Onkel gehört hatte, einen
schlichten Menschen, in dem ein freundliches
Wort Gutes wecken konnte. Frieder wußte nicht
recht, was er mit dem lieben Kind reden sollte.
Er blieb an den Erdbeeren hängen und sagte, er
.wisse manchen guten Schlag in dieser Gegend, da
hätte sie in einem halben Stündlein das Chrätteli
voll bekommen. Sibylle dankte ihm, sie habe
genug; die Beeren seien für die Kinder des Herrn
Pfarrers bestimmt, die nach dem Abendessen gern
noch etwas Süßes naschen möchten.
Der alte Vagabund, in seinem zerschlissenen
Anzug, der die liebliche Achtzehnjährige so
freundlich mit sich reden hörte, fühlte sich wie
verzaubert. In ihm erwachte etwas, was seit seinen
Jünglingstagen in ihm geschlafen haben
mochte, er lächelte einfältig vor sich hin und
redete zu ihr in dem betulichen Ton, in dem die
.Großeltern ihren Enkelkindern eine Geschichte
erzählen. Es sei nichts mit den Erdbeeren, man
könne von ihnen nie satt werden, auch wenn man
einen ganzen Hut voll davon verzehre. Himbeeri
und Brombeeri würden schon eher etwas batten,
aber ein Ankenweckli sei doch ein besserer Imbiß.
Sibylle stimmte ihm zu und da sie aus dem Hinweis
auf das Ankenweckli — ein braungelbes, aus
feinstem Butterteig gebackenes Weißbrotlaiblein
— entnahm, daß der alte Bursche wohl Hunger
habe, griff sie in ihre Tasche, zog ein richtiges,
neugebackenes Ankenweckli hervor und bot es
dem Kerl an, dessen verwittertes Gesicht von
einem fast kindlichen Lächeln bewegt war. Der
Zundelfrieder wurde von diesem Angebot überrascht
; er hatte sich so sehr ins eifrige Schwatzen
verloren, daß er an solch eine Wirkung seiner
Worte gar nicht gedacht hatte. Sogleich aber regte
sich in ihm der Landstörzer, der alles Eßbare zu
jeder Zeit gut gebrauchen kann. Er nahm das
ihm hingereichte Gebäck aus ihrer Hand, fühlte
sich danach verpflichtet, das mit so holdseliger
Miene gespendete Geschenk mit besonderem Dank
zu quittieren und tat etwas, was man dem ruppigen
Gesellen nimmermehr zugetraut hätte. Wer
weiß, woher ihm der Einfall kam? Vielleicht hatte
er es während seines Wanderdaseins als Brauch
der feinen Gesellschaft in Gasthäusern oder Post-
haltereien beobachtet, nun aber schien es ihm
angebracht, selbst als galanter Mann zu tun, was
ihm der richtige Ausdruck seines augenblicklichen,
dankbaren Gefühls schien: er machte eine etwas
eckige Verbeugung, ergriff ihre Hand und praktizierte
auf den glatten, weißen Handrücken einen
derben Kuß. Das empfand Sibylle mehr als die
komische Entgleisung eines unbeholfenen Menschen
denn als eine unangenehme Belästigung,
und sie entzog ihm darum blitzschnell ihre Hand
mit einem lauten „Pfui!", das aber mehr spaßhaft
als streng klang. Der Zundelfrieder war aber
durch seine kühne Unternehmung und die seltsamen
Empfindungen bei seinem ersten Handkuß
in solche innere Verwirrung geraten, daß er, nicht
gewohnt, sich zu beherrschen, hingerissen. wurde,
das Mädchen, das sich schnell erhoben hatte, an
sich zu ziehen und ihr einen zweiten Kuß, diesmal
aber auf die runde, liebliche, gerötete Backe zu
geben, die sich einem Angriff bot.
Erschrocken ob seiner eigenen Verwegenheit,
hatte er das Mädchen sofort wieder losgelassen
und, da er ihren Zorn und ihren Abscheu sah,
demütig zurücktretend, sie mit rauher Stimme
und fast zerknirscht um Verzeihung gebeten.
Sibylle hatte ihre Sachen ergriffen und lief, nachdem
sie mit dem Ärmel ihres Kleides sich die
Backe gewischt hatte, ins Dorf hinein. Sie nahm
das abgeschmackte Abenteuer nicht tragisch,
konnte aber ihre Erregung, als sie im Pfarrhaus
ankam, nicht verbergen. Der Herr Pfarrer, ihr
Onkel, dem sie das dumme Erlebnis schließlich
- erzählte, gab seiner Entrüstung lebhaften Ausdruck
. Sie hörte die Ermahnungen des besorgten
Mannes, vor Landstreichern und derartigem Volk
auf der Hut zu sein, mit einiger Verwunderung,
denn sie hatte bei der ganzen Angelegenheit nur
das peinliche Gefühl der Berührung mit einer
nicht recht sauberen Sache gehabt.
Man sprach im Pfarrhaus einige Vermutungen
darüber aus, was für ein Subjekt sich diese
unerhörte Frechheit erlaubt haben möge, kam
aber zu keinem Ergebnis, da man sich nicht weiter
nach dem von Sibylle genau beschriebenen
Täter erkundigte.
Die Sache wurde aber von dem andern Tags
ins Stettener Pfarrhaus kommenden Vater Sibylles
, dem Herrn von Widerspach, einem im Ruhestand
lebenden Major, aufgegriffen, der darin
eine ernstliche Beleidigung seiner Tochter sah.
Binnen kurzer Zeit hatte er durch Nachfragen in
Stetten und den benachbarten Ortschaften festgestellt
, daß niemand anders als der bei Gerichten
und Landjägern wohlbekannte Tagdieb Friedrich
Zundel der Übeltäter gewesen war. Nun ging die
Polizei dem Straßentippler wieder einmal auf die
Spur und sohon nach zwei Tagen hatten ihn die
Strickreiter gefaßt. Er wurde für seine unerlaubten
Galanterien zu acht Tagen Haft im Lorracher
Gefängnis verurteilt, eine glimpfliche Strafe,
wenn sie auch verschärft wurde durch die schmale
Hungerkost, mit der man seinen frechen Uber-
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