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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1951-09/0003
DIE MARKGRAFSCHAFT

Nr. 9 / 3. Jahrgang

Monatszeitschrift des Hebelbundes

September 1951

C^etlettL

[eben

Um etwaigen Irrtümern vorzubeugen: unsere
Überschrift ist nicht die Reklameschlagzeile eines
Feinkosthauses oder die Devise eines Nachtlokals.
Es steht auch nicht am Ausgang eines Friedhofes,
um die heimkehrenden Trauergäste daran zu
erinnern, vom Leben, das ja bekanntlich kurz ist,
noch so viel wie möglich mitzunehmen, bevor
man selbst auf dem Gottesacker zu einem Eigenheim
und einem Stückchen Boden kommt. Das
Wort ist in Goethes „Wilhelm Meister" zu finden.
Stünde es bei Schiller, würde es vielleicht heißen:
Gedenke recht zu leben. Damit ist eigentlich
unser Thema bereits begründet. „Gedenke zu
leben" ist als Auftrag zu verstehen, sein Leben
recht einzurichten, in der Verantwortung dem
Leben gegenüber leben, dieses Leben als ein wunderbares
Geschenk zu betrachten, als ein Werkzeug
zur Menschwerdung, als ein Raum, der zur
Wohnstube des Glaubens und der Zuversicht werden
sollte.

Aber was ist es nun mit dieser Wohnstube?
Sehen wir um uns! Leben blüht überall. In Stadt
und Land pulsiert es immer schneller, mächtiger,
gewaltiger. Es überwuchert Ruinen und mancherlei
Zeugen einstiger Todesnot, in der sich unser
Volk befand. Man spricht in der Welt wieder von
einem deutschen Wunder. Also haben die Menschen
doch wieder etwas vom Leben? Sie haben
Arbeit, sie haben Brot (bei dem einen ist es dick
belegt, beim andern manchmal gar nicht), sie
haben Spiele, Vergnügungen, Zirkus, Vereine,
Motorräder und Autos, Kino und Tanz. Sie fahren
sonntags in die schöne Welt, in die Schweiz
zum Beispiel, wo sie ein paar Berge vom Omnibus
aus sehen und Kaffee kaufen. Sie haben
Termine, Arbeitszeit, Freizeit, alles ist begrenzt
und geregelt. Wir leben im Zeitalter der Norm;
unser Leben verläuft normal. Dort, wo es nicht
normal ist, fällt es unter die Zuständigkeit des
Staates. Unser einziger Einwand: die Zeit ist zu
kurz, dieser Stoßseufzer freilich bezeugt aber
etwas anderes: daß da nämlich etwas fehlt. Die
Zeit kann es nicht sein. Denn früher wurde auch
viel und vielleicht härter gearbeitet als heute.
Viele Arbeiten, die wir heute maschinell und fast
mühelos erledigen, brauchten früher mehr Zeit
und mehr Schweiß. Und doch gab es damals in
der „guten alten Zeit", die allerdings gar nicht
immer in dem bequemen Sinne gut war, wie wir
meinen, Zeit für alle. Was fehlt ist bei genauem
Hinzusehen doch mehr das Lebensbewußtsein,
das Vermögen, den Atem alles Lebendigen um
uns herum einzuatmen, hinter dem farbigen Abglanz
das Wesen zu erleben, in einem bunten
Tautropfen tausend Sonnen des Schöpfers zu bestaunen
, in einem Körnchen Frucht seine Gnade
und Fürsorge, in einem unschuldigen Kinderlachen
seine Güte und Liebe zu erfahren. Wäre
es nicht an der Zeit, einmal dafür Zeit zu haben?
Wenn die Erwachsenen das Lebensbewußtsein
verloren haben, wie könnte dann die Jugend
dieses „Gedenke zu leben" richtig auffassen?

Die Einsicht in das Leben bedingt den ruhigen
Atem. Gewiß, wer einmal nahe bis an das Geheimnis
des Lebendigen, das sich im Immengärtr
lein so gut offenbart wie an den klischierten
Konsumorten der Natur, gekommen ist, der wird
auf eine andere Art atemlos. Vor Staunen nämlich
, an welchen Wundern er täglich vorübergehastet
ist. Und dann vielleicht auch vor Ehrfurcht
. Wer heute im Auto durch unsere Dörfer
rast und den vielen schwer beladenen Erntewagen
begegnet, wer denkt da einen Augenblick an das
Korn, das im Herbst oder Frühling in die Erde
gelegt wurde und nun hundertfältige Frucht trug,
um uns das tägliche Brot zu schenken? Wer denkt
auch nur an die Arbeit und den Schweiß derjenigen
, die diese Frucht gesät, ihr Wachsen
gefördert und sie in Scheunen gesammelt haben?
Das ist es doch, was Goethe damals sagen wollte
mit seinem „Gedenke zu leben": sei eingedenk
der Gnade des Lebens, seines Wunders, seiner
Bestimmung; sei eingedenk der Ordnung, die
Gott in die Welt gesetzt hat. Dabei ist nicht an
eine falsch interpretierte Askese zu denken. Im
Gegenteil, die wahre Herzensfröhlichkeit setzt
erst recht die Einsicht in des rechten Lebens Ordnung
voraus. In dem „Morgengespräch des Hausfreundes
und seines Adjunkts" von Johann Peter
Hebel wird dieses Thema auf eine wunderbar
klare Weise behandelt. Der Adjunkt erklärt das
Sprüchlein: „Du machest fröhlich alles, was da
webet, beide, des Morgens und des Abends". Da
macht Gott fröhlich das Spinnlein, den Weber,
den Adjunkten und alle Menschen, die ihr Geschäft
„in der Ordnung treiben". Wer das aber
nicht tut, der kann nicht fröhlich werden. „Folgt
daraus", erklärt der feinsinnige Adjunkt auf der
Straße unterhalb Seefelden: „Wer sein Geschäft
nicht in der Ordnung treibt, heute alles tun will,
morgen nichts, vormittags sitzt er im Wirtshaus,
nachmittags muß das Geschäft doch fertig sein,
also bleibt er daran bis Mitternacht — einen solchen
Menschen kann er nicht fröhlich machen,
denn ein solcher respektiert die Tageszeiten
nicht". Was fröhlich ist, meint der Adjunkt, muß
man selber wissen. Ein gutes Gewissen sei notwendig
. Und hat einer dieses, dann weiß der
Adjunkt genau Bescheid, wann man fröhlich sein
kann. Seine Meinung deckt sich haarscharf mit


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