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DIE MARKGRAFSCHAFT
Nr. 11/3. Jahrgang Monatszeitschrift des Hebelbundes November 1951
Über die weite Erde verstreut, in grünen
Tälern und kahlen Steppen, in Gärten, die voll
alter Bäume sind, in der trostlosen Öde der
Wüste, und auf dem verschwiegenen Grund ferner
Meere liegen Tote, deren Mission es war,
für ihr Vaterland zu sterben. Jetzt, da rings um
uns das große Sterben der Natur begonnen hat,
da das Schweigen des Totensonntages uns anstarrt
, da ein gelebtes Jahr hinabsinkt in das
Reich der Schatten, jetzt aber auch, da eine ganze
Welt in Furcht und Schrecken auf das Grollen
östlicher und westlicher Weltgewitter von atomarer
Gewalt hinhorcht, jetzt auch in dieser Stunde,
da in mehreren Gebieten unserer vom Wahnwitz
geschüttelten alten Erde täglich, stündlich Menschen
ihre Mission erfüllen, indem sie von anderen
Menschen, die ebenfalls an ihre vaterländische
Mission glauben, umgebracht werden,
jetzt ist es wahrhaft wieder einmal an der Zeit,
eben an jene Gräber grauer Soldaten zu denken,
die in die Heimatlosigkeit dieser Welt gegraben
worden sind. Denn ihre Mission ist mit dem
Sterben nicht zu Ende. Ebensowenig ist die
Schuld von uns allen, Deutschen, Russen, Franzosen
, Weißen und Schwarzen, Amerikanern und
Europäern, dadurch gelöscht, daß wir Kriegerdenkmäler
errichten, daß die Politiker Kränze
am Grab des Unbekannten Soldaten niederlegen,
während sie sich gerade anschicken, die gefährliche
Lunte an das Weltpulverfaß zu bringen,
immer ein Stückchen näher und näher. Und
draußen frieren unsere Toten in der kalten Einsamkeit
ihrer Gräber. Ist es nicht an der Zeit,
hinzuknien und an die Brust zu schlagen? Ist es
nicht höchste, allerhöchste Zeit, das schwelende
Feuer des Hasses, das überall die Ordnung der
Welt anzufressen beginnt, daß unsere menschlichen
Beziehungen von Land zu Land, von Familie
zu Familie, von Stand zu Stand zerstört,
entschlossen auszutreten? Ist es nicht vielleicht
jetzt noch das beste, was wir tun können, wir
alle, ob arm oder reich, ob mächtig oder dienend,
daß wir uns in einen stillen Winkel zurückziehen
und über die Ermordeten jener Gräber der
grauen Soldaten weinen? Wahrhaftig, es wäre
gut, wenn man aus den großen luxuriösen Konferenzzimmern
einmal die sogenannten Politiker
und Generäle hinausführen würde an die Stellen,
wo sie und ihre Vorgänger eine Generation
junger Menschen umbrachten.
Wir dürfen nicht mit dem Kopf schütteln, wir,
die noch einmal Davongekommenen, wir, die das
Glück haben, in einem weniger unruhevollen
Ländchen zu leben, wo die sozialen Spannungen
weniger scharf, wo die Menschen von Natur aus
friedlich und nicht gewalttätig sind. Wir dürfen
deshalb nicht den Kopf schütteln über diese
Betrachtungen, weil unsere Sicherheit nur eine
scheinbare und weil unser Friede nur ein Waffenstillstand
ist, nicht nur im Formalen. Die Böswilligen
sitzen im übrigen überall, auch mitten
unter uns. Es gibt auch bei uns schon wieder
Leute, die ganz gerne schießen würden oder
vielmehr andere schießen lassen würden. Eine
sensationslüsterne Presse tut das ihrige, um über
alle möglichen Generale „Tatsachenberichte"
(selbstverständlich ganz geheime, ganz neue
Sachen) zu bringen. Man ist erschüttert, mit welcher
Geschmacklosigkeit man über das tapfere
einsame Sterben unserer Stalingrad - Armee
schreibt. Man schreibt von Stäben, man dramatisiert
Funksprüche, Ferngespräche, Saufgelage,
Selbstmorde der Leute mit den roten Streifen
an den Hosen, man dramatisiert dort, wo es
nichts mehr zu dramatisieren gibt, wo das Auslöschen
des Geringsten Schweigen verlangt, Ehrfurcht
, Trauer. Aber schlagen wir auch hier an
unsere Brust: wir sind auch an dieser Geschmacklosigkeit
mitschuldig, denn wenn die Massen den
geistigen Ramsch unserer Illustrierten und Sensationsblätter
nicht abnehmen würden, würde
ihm schnell ein Ende gesetzt.
Lassen wir uns einmal eintreten in die Stille,
die von den Millionen Gräbern einsam gefallener
Soldaten kommt. Hören wir einmal ihre Stimmen
— wir hören sie, wenn wir nur wollen —,
diese fernen, traurigen Stimmen, die dann auf
einmal so eindringlich werden, die auf einmal
so mitten durch uns hindurchgehen, wie fremder
Atem, die immer wieder, tausendfach, unablässig
das eine Wort wiederholen: Friede. Denn das
ist ihre Mission, uns an den Frieden zu gemahnen
, um deretwillen sie ihr Leben ließen.
Lassen wir diese Stunde nicht ungenützt vorübergehen
, da diese Toten zu uns sprechen. Es
gibt Heldengedenkfeiern, über denen keine Fahnen
wehen; es gibt Heldenehrungen ohne Marschmusik
. Sie finden dort statt, wo wir hinabsteigen
in den Schacht unseres Lebens, auf den stillen
Grund unseres Seins, wo uns überaus klar wird,
daß zwischen Leben und Tod nur eine schmale
Wand ist, ein Nebelhauch. Und wir wissen nicht,
wenn sich die Hand des Unbekannten bewegt,
diese schmale Wand, diesen Dunstschleier beiseite
zu schieben. L. B.
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