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Die Markgrafschaft
Nr. 1 / 4. Jahrgang Monatszeitschrift des Hebelbundes Januar 1952
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.et, I Von Alfred Holler
Nichts von Untergang und Alter!
Jeden Tag ist neu die Welt,
wenn ein wissender Gestalter
ihren Stoff in Händen hält.
Man soll heute die in tiefem Weltverstehen
geformten Verse Hermann Burtes öfters lesen, ja
sie vor sich hersagen wie ein Stoßgebetlein, um
sich zu feien gegen den Kulturpessimismus
, der in unseren Tagen wie eine ansteckende
Krankheit durch die Lande geht. Es gehört zum
guten Ton, vom „Untergang des Abendlandes"
zu raunen, wenn aus einem Lokal ein Negertanz
mit Jazzmusik ertönt, oder den ,,Verlust der
Mitte" zu beklagen, wenn die Jugend — in Nachahmung
der Erwachsenen — ,,die Maske in Blau"
dem Brandenburgischen Konzert vorzieht.
Solcher unerfreulicher Zeiterscheinungen gibt
es gewiß genug. Aber daraus so radikale und
umfassende Schlüsse zu ziehen, ist schon selbst
ein bedenkliches Zeichen der Zeit. Man könnte
daran vorübergehen, wenn der Kulturpessimismus
nicht allmählich zu einer suggestiven Gewalt
würde, die das Denken und Handeln der Gegenwart
lähmend beeinflußte und sich vor allem auf
die da und dort sprießenden Keime und Möglichkeiten
einer besseren Entwicklung wie ein
Raureif legte.
Der Kulturpessimismus zieht seinen zureichendsten
Grund aus der zweifellos vorhandenen
„Weltangst". Dieses Wort, auch schon bereit, sich
Flügel anzulegen, bezeichnet einen Begriff, der
viel von seiner Realität verliert, wenn man ernstlich
beginnt, ihn zu „begreifen". Er muß etwas
Schlimmes sein. Denn wenn schon gewöhnliche
Angst etwas schwer zu nehmendes ist, was muß
dann gar „Welt-Angst" sein! Und doch nimmt
ein Blick in die Geschichte dem Gespenst der
Weltangst die popanzhafte Verkleidung von den
Schultern, womit es die Menschen schreckt. Denn
man weiß, daß die Weltangst in regelmäßigen
Zeitabständen die Völker wie eine Woge überflutet
, um sich dann wieder „Im Hall der Zeit"
zu verlieren. Man lese das Wessobrunner Gebet
oder „Muspilli", und man steht erschüttert vor
der Angst und Ausweglosigkeit, womit das 8. und
9. Jahrhundert den Menschen die Seele zusammenschnürte
. Oder man versenke sich in die
Bilder eines Altorf er, Bosch, Breugel, u. a., wo
wahrlich genug der den spätmittelalterlichen
Menschen bedrängenden dunklen Kräfte nach
oben stößt. Gar nicht zu reden von dem selbstquälerischen
Schwelgen des Barock in detaillierten
Weltuntergangsvorstellungen einerseits —
„zermatsch auch mich" — und einem in den tiefsten
Tiefen der Sinnlichkeit wühlenden Lebensgenuß
andererseits. Die Auffassung also, nur
unsere Zeit sei von der Weltangst heimgesucht,
ist ebenso irrig wie die Rede von der einzigartigen
Not und Ruchlosigkeit unserer Epoche.
Ein nur oberflächliches Blättern in der Geschichte
zeigt uns auch in früheren Zeiten Ereignisse und
Einrichtungen, die unseren modernen Folterkammern
, Umsiedlungen usw. nichts nachgeben
an genial ersonnener Menschenquälerei. Wie
z. B. der römische Räuberstaat den Unterworfenen
den „Frieden" brachte, weiß jeder Gymnasiast
. Soll man reden von den Millionen unschuldiger
Frauen, die in den Hexenbränden
endeten, von den Tausenden geblendeter Bauern,
die nach ihrem verlorenen Krieg mit ausgestochenen
Augen durch Deutschland irrten, von
den ungezählten Schlachtopfern, die Dummheit
und Bosheit im Lauf der Jahrhunderte auf den
Altären menschlichen Wahnes darbrachten?
Welches sind nun die Ursachen der „Weltangst
"? Die äußeren Ursachen zur Weltangst
waren und sind immer da. Die innere Ursache
beruht im Wesentlichen auf dem Wissen von der
Vergänglichkeit alles Irdischen, auf dem Leiden
unter dem Lebensgesetz, das alle Dinge — ob
kurz- oder langfristig — dem Werden, dem
Gestaltwandel unterwirft. Das bewußte Wissen
um dieses Gesetz kann jahrzehnte- und jahrhundertelang
schlafen. Das sind dann die „normalen
", ruhigen Zeiten, wo die Welt durchaus
„in Ordnung ist". Die Älteren unter uns haben
solche „normalen" Zeiten erlebt, wo Geschichte
gelesen, gelehrt, und sogar (von Scheffel und
Geibel) besungen wurde; es war die Welt, die
Wiltfeber auf dem Schulfest zu Wiesingen vorfindet
. Die Ahnungslosen von damals fühlten
nicht, wie die Geschichte „drunten in Gewölben
tief" (Georg Heym) Kräfte sammelte zu einem
furchtbaren Aufstehen, um unter uns zu treten
nicht mehr als das alte schrumpelige Weiblein
mit der verstaubten Perücke, sondern als erregendes
Drama, das keine ästhetische Geschmäck-
lerei mehr duldet, kein Ausweichen ins Private,
keine lächelnde Schreibtischbeschaulichkeit, sondern
jeden auf die Bühne des Welttheaters zerrt,
mag er wollen oder nicht.
So erleben wir heute Geschichte.
Dieses Erleben ist durchdrungen von einem
plötzlich wach gewordenen Wissen von der
Gefährdung unseres Daseins durch Kräfte, die
immer da waren und wirkten, jetzt aber sich enthüllen
, sich demaskieren wie beim Karneval um
Mitternacht die Tänzer. Mit diesem plötzlich erwachten
Wissen steht zugleich ein übermächtiger
Drang zum Leben auf, zur Daseinssteigerung,
Daseinsausschöpfung, der sich als Hunger nach
Rausch und Betäubung, als Angst vor der Leere
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