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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1952-01/0004
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Die Markgrafschaft

und als ein Jagen nach quantitativ gehäuften
„Freuden" kundtut, und der nach 'geschwundener
Weltangst einer gesunden „Freude" am Leben
Platz machen wird.

Historisch betrachtet und nach psychologischer
Erfahrung ist also die Weltangst eine vorübergehende
Veränderung im Ablauf der seelischen
Funktionen beim Einzelnen und bei der Gesamtheit
der Menschen. Diese Veränderung ist, wie

wir sahen, von der jeweiligen Bewußtseinsstufe
der Menschen abhängig. Gelingt es, diese Bewußtseinsstufe
in ihrem Inhalt und in ihrer
Haltung vom Willen her zu beeinflussen — die
äußeren Ursachen der Weltangst sind und bleiben
naturgegeben — so wird sich auch ein Weg
zur Heilung der Weltangst finden lassen.
Darüber soll in einem der kommenden Aufsätze
gesprochen werden.

J. R Hebel und der Winter / Richard Nutzinger

Es dürfte wohl in der deutschen Literatur
einzigartig dastehen, daß ausgerechnet der kälteste
und den meisten Menschen unliebsamste
Monat, der „Jänner", von einem Dichter besungen
wurde. Hebels Lied mit diesem Titelhelden
klingt zwar stark an das Winterlied des Matthias
Claudius an, und es ist die ja so mannigfach
wahrzunehmende Duplizität in der Poesie, wenn
sie beide — Claudius den Winter, Hebel den
Jänner — als rechten, starken Mann von unverwüstlicher
Gesundheit auftreten lassen. Aber
während der Wandsbecker Bote sein Wintergedicht
ein Lied nennt, hinterm Ofen zu singen,
und wir bei ihm den Winter ,,ansehen und stehen
und frieren", läßt uns Hebel keck ans Fenster
treten und nicht nur die derbe Urkraft des Winters
, sondern auch und besonders die Geschicklichkeit
des Meisters Jänner anstaunen; denn
der versteht es besser als der „Zuckerbeck" Baum
und Busch zu überzuckern, ja er hat sogar in
seiner feinen Formenschaffung vieles vor dem
Frühling voraus, der zwar mit Farben zu malen
weiß, nicht aber wie der Jänner mit seinen Eiskristallen
am Fenster „Helgli chritzle chaa", die
bald einem Blümlein, bald einem ganzen
Tannenwald gleichen. So gewinnt der Dichter
selbst dem Winter die gute und schöne Seite
ab. Ja, man friert überhaupt nicht in Hebels
,,Jänner", sondern man belustigt sich über
den „starche Maa", der die Gewalt der Sonne
nicht zu fürchten braucht. Aber freilich er
gibt zu: so vom warmen Stübchen aus ist das
alles ganz heiter zu beobachten; schließlich
treibt's aber für den Menschenfreund Hebel der
„ruuche Maa" doch etwas zu roh: „er nimmt si
nit um d'Armuet aa" und seine Gedanken gehen
zur armen Fischer-Lies, die mit ihrem Kind in
großer Not sitzt. Darum ordnet die Mutter —
denn auch dies Gedicht wird ihr in den Mund
gelegt — zum Schluß an, daß für die arme Witfrau
gründlich gesorgt wird mit ,,eme Säckli
Mehl, e Hemdli wiß, mit Welle un mit Weihe".
In dieser Schlußwendung finden wir wieder eine
Verwandtschaft mit Matthias Claudius, der auch
gerne seine Lieder mit diesem Hinweis auf die
Not des Mitmenschen beendet, so im Abendlied:

„Gott laß uns ruhig schlafen und unsern kranken
Nachbar auch"

oder im Rheinweilnlied:

„Und wüßten wir, wo jemand traurig läge,
Wir gäben ihm den Wein''.

Dieser „Jänner" zählt übrigens zu den allerersten
Dichtungen unseres Hebel überhaupt. Es
gibt eine bedeutend ältere Fassung des Gedichts,

in der die Charakterisierung des Jänner als
„starche" und „bliebte Maa" noch nicht so ausgeprägt
ist, der Abschluß aber mit der Fischer-
Lies ist derselbe. Denn diese Fischer-Lies hat der
kleine Hanspeter noch gekannt; sie war nämlich
die Witwe des im Gedicht „Auf einem Grabe"
erwähnten „Nochber Chlaus", des Fischers und
Totengräbers, der in einem Winter durch einen
Sturz ins Wuhr ertrunken war. Und die Mutter
Ursula wird wohl ihren Buben manchmal zur

Albert Schweitzer

zur Vollendung seines 77. Lebensjahres

am 14. Januar 1952

Die Jahresziffer zeigt die Doppelsieben.
Doch hast du nie geschont dich und gezählt
im harten Dienste, den du dir erwählt;
du tust ihn in entbehrungsvollem Lieben

zu jenen Brüdern, die vom Schmerz gequält.
Dich hat ein mächt'ger Ruf hinausgetrieben,
und jeder Lebenstag ist vollgeschrieben
der tapfern Tat, in der du dich gestählt.

Dein Werk ward Wort an uns: Aus Urwaldnot
ermahnst du uns zur Ehrfurcht vor dem Leben.
Wir hören's wieder als das Urgebot.

Du willst in neues Morgenlicht uns heben,
Prophet, um den des Abends Leuchten loht.
Dich, Großer, grüßen wir, den Gott gegeben.

Richard Nutzinger

Winterszeit zu dieser armen Nachbarin geschickt
haben. Diese Fischer-Lies, die also wirklich gelebt
hat, lebt, so scheint mir auch heute noch in
manchem verschämten Armen, der auch unserer
Hilfe in winterlicher Not bedarf.

Bezeichnenderweise schließt auch Hebels Gedicht
„Der Winter" mit diesem Hinweis auf die
Not der armen Kinder, des hungrigen Spätzleins,
dem ja der Dichter ein eigenes, mehr lehrhaftes
Gedicht gewidmet hat. Im übrigen aber unterscheidet
sich dieser „Winter" sehr wesentlich
vom „Jänner". Verweilt er im letzteren mit
geradezu grimmiger Lust bei der bein- und steinbrechenden
Kälte, so enthüllt er im Winter, nachdem
er die reizende Schilderung von der liebreich
alles zudeckenden „Bauwele" vorausgeschickt
hat, das Geheimnis der schlafenden Erde.

Somit ist für Hebel der Winter nicht der
große Tod und das tiefe Grab, sondern der gütige
Konservator des Lebens und der Umbruch zu
neuer Auferstehung.


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