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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1952-03/0008
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Die Markgrafschaft

Ein vergessener alemannischer Dichter

Johann Martin Usteri

„President und ihr Bürger! Es stöhnd mir d'Haar zue
de Berge!

's Vatteriand ist i Gfahr! Ihr Richter i rüef i'iS no lüüter:

's Vatteriand ist i Gfahr! Drum yled, helfed und retted!

Gspüred er nüd a de Hälse?" —

Die Richter griffed erstrocke all a d'Häls. —

„Ihr Chüeh! Figürli verstahn is, figürli!"

Diese köstliche, erheiternde Einzelheit aus
einer sehr dramatischen ländlichen Gerichtsszene
findet sich in der Idylle „De Vikari", die der
Züricher Dichter Johann Martin Usteri um das
Jahr 1810 schrieb. Dreieinhalbtausend Verse, die
in epischer Breite, in Hexametern eine uns heute
wenig rührende Liebesgeschichte in einem Pfarrhaus
erzählen! Die Pfarrerstochter Nette möchte
gern den jungen Vikari, soll aber einen andern
heiraten, der sich bald als ein Tölpel entpuppt.
Ehe sich die Geschichte zum Guten löst, geht in
dem Pfarrhaus allerhand vor: ein aufregender
Diebstahl wird bekannt, aber weniger beunruhigend
sind die Mahlzeiten und deren Zubereitung,
die der Dichter uns miterleben läßt. Mögen die
Gestalten dieses Gedichts uns heute nicht mehr
so anziehen wie die Zeitgenossen Usteris — wir
verspüren überdies die Abhängigkeit des Werks
von Goethes „Hermann und Dorothea" — so ist
diese Geschichte doch durch viele sehr reizvolle
Einzelheiten und besonders durch die mundartliche
Gestaltung für alemannische Leser recht
liebenswert. Ein feiner Humor macht sich geltend
, der manchmal mit leisem Spott über die
Menschen und ihre Eigenheiten zu lächeln versteht
. Im Sprach] ichen sind es nur wenige Züricher
Ausdrücke, die dem reichsdeutschen Alemannen
unbekannt sind, etwa Nydle für Rahm
oder Sahne, Bähre für Fischnetz, Selzni für
schlechte Laune. Von Hebel entlehnt ist der
Gruß „Gottwilche", in Zürich heißt es „Grüezi";
auch der Pflanzenname „Zinggli" für Hyazinthe
ist eine Anleihe bei Hebel. Ganz in unserem
oberrheinischen Sprachgebrauch wie im Züricher
verwurzelt sind die Worte Anke (Butter), Chaib
(unübersetzbarer Schimpf- und Kosename!),
Gosche (Schnauze), Gufe (Stecknadel), Gülle
(Jauche), Gumpe (Wasser tümpel), Zeine (Korb).
Hier klingt noch manches alemannische Mundartwort
auf, das heute nur noch bei dem älteren
Geschlecht oder in abseitigen Tälern lebt.

Usteri hielt von seinen mundartlichen Werken
nicht viel, er schrieb sie offenbar nur für den
Hausgebrauch im Kreis seiner Freunde; erst nach
seinem Tode wurden sie gedruckt. Außer der
genannten Idylle und einer weiteren „De Herr
Heiri" gibt es von Usteri eine Anzahl mundartlicher
Volks- und Kinderlieder, die heute noch
ganz frisch wirken, so z. B. das „Berglied":

Uf Bergen, uf Bergen, do isch'ss eim so wohl!
's tönt d'ofoe so liebli, und d'unne so hohl!
Drum keiner, drum keini im Tal unne blyib!
De Berg ist e Dokter für Seel und für Lyb!

Der Dichter dieser uns so heimatlich anmutenden
Verse ist 1763 in Zürich geboren und
starb 1827 in Rapperswyhl. Sein eigentlicher
Beruf war der eines Zeichners und Malers, doch

schuf er sich bald auch als Dichter einen Namen,
vornehmlich als Verfasser von Gelegenheitsgedichten
bei schweizerischen Festen. So erfüllte
er schon bevor sie aufgestellt wurde, die Forderung
Gottfried Kellers, der den jungen Dichtern
ans Herz legte, sich zunächst an Liedern und
Gedichten für das heimatliche Festleben zu bewähren
. Der epischen Begabung Usteris entsprach
es, daß er auch Balladen, meist aus heimatlichem
Sagenkreis schrieb und geschichtliche Erzählungen
in Prosa. Davon findet unsere Anteilnahme
zunächst eine Novelle, deren historischer Hintergrund
die Fahrt des „glückhaften Schiffes" im
Jahre 1576 ist, das von Zürich in einem Tage
zum Straßburger Schützenfest fuhr und dort
einen Topf mit in Zürich gekochtem Hirsebrei
noch heiß auf die Tafel brachte; ein schönes
Sinnbild einstiger alemannischer Verbundenheit
über die Landesgrenzen hinweg! Eine andere
Erzählung mit dem Titel „Der Schatz durch den
Schatz" berichtet in altertümelnder Sprache die
Lebens- und Liebesgeschichte eines Goldschmiedgesellen
von Freiburg im Breisgau, der als
Freier um seine geliebte Amey von dem hartherzigen
Vater abgewiesen wird und darum wieder
auf die Wanderschaft geht. Er gerät dabei
in einen Haufen aufrührerischer Bauern — es ist
um das Jahr 1525 — und wird von ihnen mitgeschleppt
. Bei der Plünderung eines Schlosses
fällt ihm ein kostbarer Schatz in die Hände, und
nun ist er kein armer Teufel mehr; er kann
seine Amey heiraten, die durch einen Blitzschlag
den Vater und das Vaterhaus verloren hat. Das
Getümmel des Bauernkrieges und die Einnahme
der Ritterburg, der Zug über Heitersheim und
Freiburg nach Kenzingen, die Plünderung des
Schlosses Greifenstein sind darin anziehender zu
lesen als die eigentliche Liebeshandlung.

Es ist klar, daß alle diese Werke heute als
überholt und verschollen gelten müssen. Usteri
sollte jedoch heute unvergessen sein als Dichter
des Liedes: „Freut euch des Lebens".

Dieses, 1793 geschriebene Lied, das man vielfach
für ein Goethe'sches hielt, nahm einen beispiellosen
Siegeslauf durch die Welt, wurde ins
Französische, Italienische, Englische, Holländische,
Russische und Lettische übersetzt. In der Vertonung
durch Nägeli wurde das Lied trotz der
unmöglichen Akzentuierung (die bei den Worten
„Lebens" und „Rose" die zweite Silbe betont!)
zu einem äußerst beliebten Volkslied, das schließlich
auf ähnliche Weise wie der „Jungfernkranz"
im „Freischütz" totgesungen wurde, aber immer
wieder auflebte. Zum ersten Mal erklang es bei
dem Fest einer Künstlergesellschaft; im Sommer
1794 wurde es, von Blasinstrumenten begleitet,
die stürmisch bejubelte Schlußnummer eines
Nachtfestes auf dem Züricher See. Das Lied des
alemannischen Dichters, das in all seiner Fröhlichkeit
doch auch eine für das alemannische
Wesen kennzeichnende leise Schwermut mitschwingen
läßt, wird den Namen Usteris immer
wieder der Vergessenheit entreißen. Franz Hirtler


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