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Die Markgrafschaft

Aus den historischen Szenen „Die Renaissance" des Grafen Gobineau

Auf unserem Titelbild zeigen wir das reizvolle
Wasserschloß Inzlingen, das auch einmal den
weitgereisten französischen Orientalisten und
Diplomaten Joseph Arthur Graf von Gobineau
(1816—82) beherbergte. Aus dessen Werk veröffentlichen
wir nachstehend einen Ausschnitt
aus seiner „Renaissance", der geeignet ist, etwas
über die weltweite Geistigkeit des Verfassers
und die einmalige Erscheinung des universellen
Genius Michelangelo auszusagen. D. R.

1560

Ein Saal im Palazzo Colonna

Donna Vittoria, Marchesa von Pescara, schwarz
gekleidet, liest an einem kleinen Tische von
Ebenholz, auf welchem eine silberne Lampe steht.
Zwei Ehrendamen und eine Hofmeisterin in
großen Hauben sind im Hintergrund mit Handarbeit
beschäftigt. Das Feuer ist im Kamin angezündet
, und die Scheite knistern laut in der
Flamme.

(Ein diensttuender Edelmann tritt auf.)

Der Edelmann: Herrin, der Herr Michelangelo
kommt soeben die Treppe herauf.

Die Marchesa: Es ist gut, leuchtet ihm!
(Sie erhebt sich und wendet sich Michelangelo
entgegen; dieser erscheint oben im Flur, vor ihm
her gehen Edelknaben, in der Diensttracht des
Hauses Avalos, mit Fackeln.) Guten Abend, mein
Freund. Wie befindet Ihr Euch an diesem kühlen
Abend?

Michelangelo: Ich küsse Eurer Exzellenz
die Hand. Ich befinde mich besser, als ein
Greis erwarten dürfte.

Die Marchese: Ihr seid hoffentlich nicht
allein gekommen?

Michelangelo: Nein; seitdem Ihr mir
verboten habt, nach Belieben und ohne Gefährten
auszugehen, tue ich es nicht mehr. Antonio hat
mir mit seiner Laterne bis an das Tor des Palastes
geleuchtet, und da habe ich Eure Leute gefunden,
die mich wie einen großen Herrn behandelt haben.

Die Marchesa: Kommt setzt Euch da,
neben dem Kamin. Hier. . in diesem Lehnstuhl. .
Caterina, keinen Schritt; ich will Michelangelo
bedienen . . . Schön! Haltet Eure Füße näher ans
Feuer.

Michelangelo (der sich gesetzt hat): Ich
lasse Euch gewähren, Frau Marchesa, ich lasse
Euch gewähren . . . Ein Herz wie das Eure steht
auf dem Gipfel der Größe, und dieser Gipfel ist
die Güte.

Die Marchesa (lächelnd): Was Ihr sagt,
würde wahr sein, wenn es sich darum handelte,
sich den Armen hilfreich zu erweisen und, wie
unser göttlicher Erlöser, einigen Bettlern die
staubigen Füße zu waschen. Aber Michelangelo
bedienen? Das heißt nicht sich sonderlich erniedrigen
.

Michelangelo: Wer sollte nicht, wenn
er Euch hörte, alles andere eher glauben, als was
wirklich ist? ein Wesen durch die Jahre gebeugt,
über das alle Schwächen des Alters hereingebrochen
sind, das nicht ohne Mühe seine abgezehrten
, zitternden Finger nach der wärmenden Flamme
ausstreckt... Was seht Ihr weiter? Spärliches
Haar, weißes Haar auf einer Stirn, die die Farbe
des Elfenbeins annimmt, welke und eingefallene
Wangen.. . Augen, die nicht mehr sagen, was
das Herz empfindet... Ihr seht eine Ruine, Marchesa
, eine menschliche Ruine, die jammervollste,
unheilbarste aller Ruinen.

Marches^: Indem ihr so sprecht, entwerft
ihr ein Gemälde und macht dies ebenso ergreifend
wie Eure Gedanken. Der Kreis, den ihr vor meinen
Augen in das ganze Nichts seiner Schwachheit
erniedrigen wollt, schwingt sich im Gegenteil
empor, erhebt sich gerade durch die schaffende
Kraft Eures Geistes. Doch nein, Ihr irrt Euch;
nicht ein Gemälde ist, was ich beschaue, es ist
die Wirklichkeit, und ich kann mir nichts denken,
das mit ihr an Hoheit und Reiz wetteifern könnte.

Michelangelo: Ja! Ihr betrachtet die
zwiefache Auflösung der zerfallenden Materie
und der unsterblichen Seele, die sie bald von
sich stoßen und sich in den Schoß der göttlichen
Unendlichkeit flüchten wird.

DieMarchesa: Mir scheint, ich sehe neben
mir, mir gegenüber, in dem Kreise, den meine
Blicke beherrschen, einen jener Sterne, die Dante
in so kleiner Zahl bis in die auserlesene Sphäre
seines schimmernden Paradieses aufsteigen läßt,
einen jener Sterne mit dem lebendigen Funkeln,
die, die nächsten dem ewigen Dreieck seinem
Lichte ihren Glanz entleihen. Ihr seid nicht alt,
Michelangelo, Ihr lebt und werdet immer leben,
wie jener reinste, taten- und wirkungsreichste
Teil der menschlichen Geister, die sichere und
unverwerfliche Führerschaft der Welt, nie aufhören
wird zu sein.

Michelangelo: Ich werde die Erde bald
verlassen, ja. Der Saft gärt in meinem Innern
und bricht des Baumes abgenutzte Rinde; der
Keim spaltet die Hülse, die ihn umschließt; das
Samenkorn, zu seiner Reife gediehen, schwillt an,
um aus dem absterbenden Fleische hervorzudringen
. Ich habe lange genug hienieden gelebt,
und ich bitte meinen Herrn, seinen Knecht heimzurufen
.

Die Marchesa: Ihr seid müde zu leben?

Michelangelo: Ich bin begierig danach
im Gegenteil. Weit ab von den Gliedern meines
wahren Wesens möchte ich die Fleischesbande
schütteln, die sie beengen. Mich dürstet nach der
vollen Freiheit meines Seins; mich hungert nach
dem, was ich ahne; mich drängt es, das zu
schauen, was ich begreife. Wenn ich während
meines Aufenthaltes hienieden etwas erfaßt und
einen Teil der Wahrheiten, die ich fühle, habe
ausdrücken können, was wird mir nicht gelingen


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