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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1952-04/0007
Die Markgrafschaft

5

zu vollbringen, wenn einmal die öden Felswände,
die mich umgeben für immer in die Tiefen der
Vergangenheit gesunken sind. Nein, nein! Nicht
der Tod ist es, was ich kommen fühle, es ist das
Leben, das Leben, davon man hienieden nur den
Schatten gewahren kann und das ich bald ganz
und gar besitzen werde.

Die Marchesa: Man versichert gemeiniglich
, daß das Alter mürrisch und mißvergnügt
sei, daß in seinen Augen alles sich mit finsterem
Gewölk bedecke, und daß die sanfteste Gemütsart
mit den Jahren verbittert werde. Genau das
Gegenteil ist bei Euch eingetreten. Ich habe Euch
grämlich, ungeduldig, reizbar gekannt. Ihr wäret
so von Eurem Denken eingenommen, daß der
Genius anderer Euch ein toter Buchstabe blieb.
In dem Maße, als der Schnee des Alters sich um
Euer geistiges Wesen gelagert hat, hat sich alles
geändert. Es scheint, daß umgekehrt wie die
andern Menschen Ihr sehr spät die Fülle, die
Frische des Lebens, die Reinheit, die Bestimmtheit
, die Weite des Blicks und die wahre Kenntnis
Euerer selbst und der andern errungen habt

Michelangelo: Es ist so, in der Tat. Der
Himmel hatte mich — ich will es gestehen — bei
der Geburt mit einer Tatkraft ausgestattet, die
zu meiner Leibesbeschaffenheit in keinem Verhältnis
stand. Ich erriet mehr als ich imstande
war zu sehen, und ich sah weiter als ich reichen
konnte. Alles was um mich her auftrat, erschreckte
mich; ich hatte Angst, daß meine zu
beschränkten Kräfte noch zersplittert werden
könnten, und ich zwang mich mit Wut und einer
ingrimmigen Hartnäckigkeit, meine Blicke auf
das geheiligte Ziel zu sammeln, das ich zu verfehlen
fürchtete. Indessen fühlte ich sowohl
meine Hoffnung, zum Siege zu gelangen, als
meine Furcht, ihn mir entgehen zu lassen, sich
verdoppeln... Ich lebte dahin unter Arbeiten
und Anstrengungen, die mich außer mir brachten
. Ich wollte die Natur in all ihren labyrinthischen
Windungen auf einmal ergreifen, und ich
erkletterte ihre Gipfel, indem ich mich mit den
Händen, mit den Fingern, mit den Füßen, mit
den Knien, mit dem ganzen Körper an das anklammerte
, was sie mir an Stützpunkten darboten
. Ich bin Bildhauer, Maler, Dichter, Baumeister
, Ingenieur, Anatom gewesen, ich habe
Kolosse in Stein ausgehauen und Figurinen in
Elfenbein ziseliert. Ich habe die Wälle von Florenz
und Rom entworfen, Bastionen errichtet, Fronten
defiliert, Glacis ausgemessen, und nicht fern von
dem Gebäude, dessen Wand ich mit der Offenbarung
des jüngsten Gerichtes gezeichnet habe,
ist es mir gelungen, die ungeheure Kuppel des
Fürsten der Apostel bis in die höchsten Höhen
der Atmosphäre emporzuführen... Die Päpste,
die Könige, der Kaiser, die Fürsten haben mich
geehrt... Da, immer noch im Arbeiten, ist mein
Herz zur Ruhe gekommen, der Zweifel, die
Furcht, den Weg zu verlieren, sind von mir gewichen
... Die Aufregung und die Ungeduld haben
aufgehört, mich dem Sturm der Ungewißheit

preiszugeben, und ich bin, wohl oder übel, der
Mann geworden, der ich heute bin und der, um
geboren zu werden, der Jahre bedurfte und sich
nun im Alter jung findet.

Wir lassen große Dinge hinter uns und große
Beispiele. Die Erde ist reicher als sie war, ehe
denn wir kamen. Was verschwindet, wird nicht
ganz und gar verschwinden. Die Felder können
ruhen und eine Zeit brach liegen; das Samenkorn
ist in den Fluren. Der Nebel kann sich ausbreiten
, und der Himmel grau und trüb sich mit
Dunst und Regen bedecken, die Sonne steht dort
droben.. . Wer weiß, was wieder kommen wird?

Die Marchesa: Ihr scheint erschöpft,
mein Freund, Euer Haupt neigt sich.

Michelangelo: Ja, ich bin müde... ich
will Euch verlassen.. . Ich bin neunundachtzig
Jahre, Marchesa, und jede Bewegung greift mich
ein wenig an; wir haben diesen Abend von gar
ernsten Dingen gesprochen. Lebt wohl!

Die Marchesa: Auf morgen, nicht wahr?

Michelangelo: Auf morgen .... ja ....
wenn ich noch von dieser Welt bin... und wenn
ich nicht mehr darin bin, auf Wiedersehen, edle
Frau! (Er erhebt sich, die Marchesa stützt ihn
und drückt ihm die Hand.)

Die Marchesa: Lehnt Euch auf meinen
Arm. .. ich will Euch bis unten an die Treppe
geleiten.

Michelangelo: Ich willige in die Ehre..
ich nehme den Liebesdienst an .. . Mir scheint,
heute darf ich ihn wollen. Ich will Euch ein
letztes Wort sagen .. .

Die Marchesa: Und was, mein Freund?

Michelangelo: Euch, die ich so liebe,
Euch segne ich aus meines Herzens Grunde. ..
Lebt wohl! (Er küßt der Marchesa die Hand und
entfernt sich.)

In Schottland gibt es Leute, welche sehr alt werden.
Ein Reisender begegnete einmal einem betagten Sechziger
, welcher schluchzte. Auf die Frage, was ihm fehle,
sagte dieser, der Vater habe ihm eine Ohrfeige gegeben.
Das kam dem Fremden fast unglaublich vor, daß ein
Mann von solchen Jahren noch einen Vater am Leben
haben und noch unter seiner Zucht stehen soll. Als er
ihn aber nach der Ursache der Ohrfeige fragte, so sagte
der Sechziger: darum habe er den Großvater schier
fallen lassen, als er ihm habe sollen ins Bett helfen.
Als das der Fremde hörte, ließ er sich von dem Mann
ins Haus führen, ob es auch so sei, wie er sagte. Ja,
es war so. Der Bube war 62 Jahre alt, der Vater 96
und der Großvater 130. Und der Fremde sagte nachher,
als er es wieder erzählte, es werde einem ganz kurios
zu Mute, wenn man so 288 Jahre beieinander in einem
Stüblein sehe. J. P. Hebel


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