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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1952-05/0021
Die Markgrafschaft

19

Daniel in der Grube

Als wir einen Tag, eine Nacht und wiederum
einen Tag westwärts gegangen waren, sahen wir
im hellen Abendlicht einen Fluß. Jenseits des
Flusses begannen die Schwarzen Berge. Es waren
kahle, kuppige Höhen, über die jetzt der Frühlingswind
fegte, eine Art sandiger Atem, heiß
und kalt zugleich, aber vor allem scharf. Dieser
Wind brannte das Gesicht auf, und selbst unsere
armen, rissigen Hände begannen zu brennen. Die
brandigen Stellen taten weh im Wind.

Und dann war da in der Nähe des Ufers ein
alter Schuppen mit durchlöcherten Wänden und
zerfetztem Dach. In einer Ecke lag ein Stahlhelm,
den einer der Unsrigen getragen hatte, und ein
Stückchen weiter weg lag noch etwas. Andreas
steckte die Erkennungsmarke in seine rechte
Brusttasche; er war immer der ordentlichste von
uns. Wir gingen aber nicht in den Schuppen, sondern
in eine Kiesgrube, die flach und trocken
war. Fünf Mann waren wir, oder vielleicht waren
wir auch fünf Gespenster. Fünf von einhundert-
fünfundsiebzig, aber die andern einhundertsiebzig
konnten nicht mehr in einer Kiesgrube hocken
und Pferdekuchen essen, wie wir es taten.

Und dann, als wir gegessen hatten, wollte
einer vom Schuppen Holz holen, um Feuer zu
machen und seine große, schlimme Beinwunde
mit einem Taschenmesser ausbrennen, denn die
Wunde eiterte, und der Gestank begleitete uns
seit Bolschoije, und wir dachten im Stumpfsinn
unseres Marsches nach Westen, bei dem es um
Leben und Tod oder um den Anschluß an die
deutsche Armee ging, was gleichbedeutend war,
verdammt wenig an die Schmerzen, die der lange
hagere Mecklenburger litt. Wir dachten gewiß zu
wenig an seine Schmerzen, und wir ließen es
nicht zu, daß er ein Feuer machte. Aber wir
gaben ihm die doppelte Ration Wodka, der kein
richtiger Wodka war, sondern ein verdammter
Kartoffelsprit. Darauf wurde der Mann ruhiger.
Wir wickelten ihn in eine Decke und der alte
Heinrich, der aus Berlin war, hatte noch einen
Mantel, den er darüber deckte. Der Mantel ging
dem langen Hageren, dessen spitzer Gurgelknopf
auf und ab zuckte, bis zur Brust.

So ging es eine Weile. Über die Schwarzen
Berge und über den Fluß kam der trockene harte
Wind. Er strich über unsere Kiesgrube, und wir
tranken Wodka. Dann hörte der Wind auf einmal
auf und überall war es still. Der Himmel
war bleich und fern. Niemand redete. Die große
Stille wanderte über die Erde, die vielleicht gut
war. Aber wer dachte von uns an gut oder
böse, wir waren fünf Gespenster in einer
Kiesgrube, und einer von uns litt an einer üblen
eitrigen Wunde, die ein Querschläger verursacht
hatte. Und um der Wahrheit willen muß es gesagt
werden: dieser Mann, der aus Mecklenburg
war, litt noch mehr daran, daß er seinen Kameraden
die Luft verpestete, daß einem übel werden
konnte davon, und daß er unseren Marsch
nach Westen verzögerte.

Als die Nacht mit der Stille sich vereinigte,
begann Martin, der Mann in der Decke und unter

des guten Heinrichs Mantel zu frieren. Sein
Adamsapfel zuckte auf und ab und seine Zähne
klapperten. Er hatte schöne weiße Zähne und
sein Kopf, den ich stützte, war schmal und blond.
Andreas und Josef flößten ihm Wodka ein. Aber
die Augen Martins gingen unruhig und seine
armen braunen Hände zuckten hin und her, und
der Schweiß perlte auf seiner Stirn.

Vater unser, sagte Martin, der wie Daniel war
und im Fieber sprach, vergib uns unsere Schuld
im Himmel, und auch den andern, und dem
Major, der mein Pferd erschoß. Und daheim habe
ich eine Frau, und kannst sie gut besuchen, Heinrich
, die andern sind zu weit weg. Geheiligt werde
dein Name, lieber Gott, und mein Bein tut weh.
Erlöse uns von dem Mist, von dem Krieg und
den Russen und den andern auch. Erlöse uns,
lieber Gott, denn du hast die Kraft. Amen.

Wir kauerten zusammen und legten alle Dek-
ken auf Daniel, der einen elenden Schüttelfrost
hatte und betete und stöhnte. Er stöhnte nicht
laut, und wir haben nie einen Mann so tapfer
leiden sehen. In drei Stunden müssen wir weiter,
sagte der Unteroffizier Andreas Geiger und sah
mich an. Wir sahen uns alle an, aber keiner
wußte etwas zu sagen.

Nach einer Stunde hörten wir ein Geräusch
hinter dem Schuppen. Dann stieß jemand mit
dem Fuß gegen den Stahlhelm und fluchte. Es
war ein häßlicher russischer Fluch, den man nicht
übersetzen kann. Wir entsicherten und hielten
den Atem an. Etwas Geröll fiel in unsere Kiesgrube
, und Daniel begriff alles. Er preßte den
Mund zusammen und krampfte seine Hände in
den grauen Mantel. Josef spähte über den Rand
der Grube. Dann quietschten Bretter des Schuppens
, die jemand losriß. Später kam noch jemand,
und sie luden die Bretter auf einen Haufen, banden
einen Riemen darum und gingen fort. An der
Ecke, wo der Stahlhelm lag, bückte sich einer,
fluchte und warf den Helm flach hinter sich in
die Grube. Der Helm flog über den Kopf Josefs
und traf das kranke Bein Daniels. Wir sahen es
wie in Zeitlupe und konnten es nicht hindern.
Denn es dauerte natürlich doch nur eine Sekunde,
und wir waren zum Sprung gerichtet. Daniel
müßte jetzt also auf brüllen wie ein Tier. Und
dann müßten wir springen und die beiden mit
ihren Brettern totschlagen, und dann würden sie
kommen, und wir würden vielleicht noch durch
den Fluß kommen, aber nicht mehr über die
Schwarzen Berge.

Wir sahen uns an, und niemand wußte etwas
zu sagen. Daniel weinte lautlos. Wir gaben ihm
allen Wodka, der ein übler, aber starker Fusel
war. Josef sagte: das verdammte Russenschwein.
Dann machten wir eine Trage und trugen den
bewußtlosen Daniel über den Fluß und über die
Schwarzen Berge. Es dauerte noch die ganze
Nacht und einen Tag und noch eine Nacht, bis
wir in einen deutschen Graben stolperten.

Leopold Börsig.


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