Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1952-06/0003
Die Markgrafschaft

Nr. 6 / 4. Jahrgang

Monatszeitschrift des Hebelbundes

Juni 1952

dg, ! Von Alfred Holler

7

Versuch einer Selbstkritik

„Höher geht's nicht mehr" — das war das
allgemeine mit Bewunderung aber auch mit einer
gewissen Beklemmung ausgesprochene Urteil
über den diesjährigen Hebeltag. Bewunderung
für die Leistung eines Organisationstalentes, das
es fertig brachte, Menschen und Dinge in den
Ablauf eines Tages einzufügen, daß sich die einzelnen
Begebenheiten mit der Genauigkeit eines
Zahnradgetriebes in- und aneinander schlössen
und das Bild vollständig beherrschter Materie
boten. Beklommenheit aber stieg vor allem bei
der Erinnerung an den ersten Hebeltag auf, an
jenen erschütternden Zug der armen und ausgebluteten
und enttäuschten Herzen, die am
10. Mai 1946 die Hebelstatue an ihren alten Platz
geleiteten. Damals konnte man Männer und
Frauen mit nassen Augen am Straßenrand stehen
sehen. Aber die Armut in der Aufmachung des
damaligen Zuges war die „Heilige A r m u t",
aus^der von je alles Große und Echte entstanden
ist. In jener Stunde wurde der Hebelbund geboren
. Heute umsäumen gut gekleidete und wohl
ernährte Menschen den Weg des Umzuges am
Hebeltag, und aus den Mienen schaut sehr viel
Langeweile und Übersättigung. Teilweise aber
auch Kritik, die sich auf Gründe stützt, und an
der der Hebelbund nicht vorübergehen kann.

Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß der Umzug
am Hebeltag über die Form hinausgeht, die
ihm ursprünglich zugedacht war. Wie hat er
diese Form im Lauf der Jahre bekommen? Wer
gab sie ihm? Oder hat sich der Umzug diese
Form gar selbst genommen? Die letzte Frage
geht am nächsten an die Sache heran. Die Frage
muß bejaht werden. Der Umzug am Hebeltag
unterlag, wie so viele Erscheinungen in unserem
öffentlichen Leben, dem Gewicht unserer Zeit,
das in der Form des Hungers nach Quantität,
nach Schau, nach massierten Reizen — Kino und
Illustrierte sind hier führend — alles Geistige an
den Stoff bindet, und, was ein Fest der Herzen
bleiben sollte, dem Lärm des Marktes und der
Straße preisgibt.

Darüber moralische Betrachtungen anzustellen
, führt zu nichts. Der Hebelbund sah der Tatsache
dieser Entwicklung bei seiner Gründung
ins Auge. Er bejahte sie keineswegs, aber er
suchte sie zu benutzen in seinem Kampf für die
Wiedereinsetzung des Geistes in sein Recht. Der
Hebelbund wollte mit den Symbolen der Masse
auf die Masse wirken. Man kann nun diesen
gefährlichen und zweideutig erscheinenden Weg
des Hebelbundes verurteilen. Aber es war
e i n W e g ! Es war der mutig aufgesetzte Fuß
auf schwankenden Boden in Tagen der Ausweglosigkeit
und Verzweiflung. „In gefährlichen
Lagen ist das Unterlassen einer Maßnahme
schlimmer als ein Fehlgreifen in der Wahl der
TVEittel", so oder ähnlich heißt es ih der Felddienstordnung
des alten deutschen Heeres. Der
Hebelbund steht zu seinem damaligen Schritt.

Und — war der Umzug am Hebeltag wirklich
ein so arges Fehlgreifen in der Wahl der Mittel?
Gewiß blieb manches an der Oberfläche, und
manche Leute behaupten, der Herr Bundespräsident
habe das Hebeldenkmal nicht einmal gesehen
. Aber viele Gäste und Zuschauer, über ihre
Meinung befragt, bezeichneten den Umzug als
ein frohes, den Alltag durchbrechendes Ereignis,
und es zeigte sich, daß für eine erschreckend
große Anzahl von Menschen Hebel, ja jeder
Dichter, teils ein nie gekannter, teils ein versunkener
Begriff war. „Die besten Dinge in der
Welt taugen nichts ohne einen, der sie erst aufführt
", dieses Wort Nietzsches gilt für die toten
Dichter so gut wie für die lebenden, voran in
einer Zeit, die der Dichtung nicht zu bedürfen
sich noch rühmt.

Aber die Gründe für die Ablehnung des Umzuges
am Hebeltag liegen auch in der seelischen
Beschaffenheit des Publikums. Warum wurden
in diesem Zusammenhang die Empfangszeremonien
, der Aufmarsch der Gruppen und Vereine
, der Zünfte, Radfahrer, Rollschuhläufer etc.
als „Zuviel" empfunden? In Kellers „Fähnlein
der sieben Aufrechten" beraten die Männer
lange, was sie zum Fest mitbringen sollten. Die
Vorschläge gehen von einer Kuh und einer Bettstatt
bis zum silbernen Becher. Keiner dieser
Gegenstände wird als ungeeignet oder als „Zuviel
" empfunden. Warum? Weil alle diese für
das Fest bestimmten Dinge noch getragen und
durchdrungen sind von echtem Gemeinschaftsgefühl
, von der „Freude aneinander
", von der alle Feste in einem geordneten
Staat ihre Freudigkeit und ihre Gelöstheit beziehen
. Diese „Freude aneinander" begrüßt die
im Zug mitgeführte Kuh ebenso froh wie die
Fahnen und Symbole des Festes. Dieser Gemeinschaftsgeist
ist heute einer gefährlichen geistigen
und sozialen Aufspaltung gewichen. In ihr
liegt ein Hauptgrund für die skeptische Aufnahme
, der öffentlichen Veranstaltungen heute
überhaupt begegnen. Daß sich in der Stadt Lörrach
das Fehlen eines solchen Gemeinschaftsgeistes
ganz besonders schmerzhaft bemerkbar
macht, ist bei- der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Struktur der Stadt nicht zu verwundern
. Auf alle Fälle besitzt der Hebelbund soviel


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1952-06/0003