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		Die Markgralschaft
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Am 28. Dezember hatte die Wintersonne die
Vögel, die einige Tage zuvor stumm und mißmutig
ihre Nahrung suchten, auf kurze Zeit
wieder zu neuem Leben geweckt. In den Zweigen
der Büsche und Bäume klang wieder das
Geläute der Meisen, das Flöten des Dompfaffen
und das lustige Klopfen des Spechtes. In der
einen Ecke des Friedhofes
,  wo  sich durch _
viele Jahre hindurch
ungestört eine Wildnis
gebildet hatte, die leise
Gewesenes überwucherte
, war ein Grab
geschaufelt worden. Es
war die letzte Ruhe-
stätte Georg Buchners.
Zu seiner Beerdigung,
die nur kurze Zeit
dauerte, waren nur die
nächsten Nachbarn und
die Beschenkten aus
Panka, Mann, Frau und
Sohn, gekommen. Nachdem
der hochehrwürdige
Herr, der Proto-
pope der orth. Kirche,
der greise Lewynskyj,
aus einem dicken Buch,
das ihm der Kirchendiener
hielt, in altslawischer
Sprache gelesen
hatte, begann er:
„Gesegnet, wer im Namen
des Herrn kommt
und seine Pfade geht".
Ein Bruder kam aus
der Gefangenschaft zu
uns, arm, entstellt, abgerissen
, sogar ohne
Namen. Er ging den
Weg, der ihm vom
Schicksal bestimmt war.
Das Leid, das er trug,
war schwer, denn er
lebte in der Zeit der
abwesenden Herzen .. .
Sich an den Toten wendend
, fragte der Greis:
„Wer bist du, lieber
Bruder, der du so still
hier vor uns liegst? Wie
lautet dein Name? Wo
liegt deine Heimat? Du
wußtest es nicht mehr.
Jetzt aber gehst du in
das Land ein, wo der
Mensch nicht nach seinem
Namen, sondern
nach seinem Herzen gewertet wird. Dich, Bruder,
übergebe ich wieder der Erde. Erde zur Erde,
Asche zur Asche." *
Die wenigen Möbel und Sachen, das Eigentum
Buchners, war schon längst verteilt, als der
Wagen des Altwarenhändlers aus dem Hinterhofe
des Hauses, in dem Buchner gewohnt hatte,
hinausrollte. Im vollbeladenen Wagen rasselte
und klirrte es. Aus dem Stapel von Papier, der
obenauf hin und her wiegte, * löste sich langsam
ein Heft und fiel auf die Straße. Der Wagen fuhr
ruhig weiter. — Etwas später fand es ein Fußgänger
. Da auf dem Heft kein Name zu sehen war,
steckte er es kurz entschlossen in seine Tasche.
Am heiligen Abend
Holzschnitt von Bodo Zimmermann
Am Abend erinnerte er sich an das Heft,
öffnete es und begann zu lesen:
In meiner Einsamkeit flüchte ich zu dir, mein
Heft, um all das, was mich bedrückt und noch
bewegt, niederzuschreiben. Warum vertraue ich
dir mein Geheimnis an? Ich fürchte, ansonsten
müßte ich mein Leid jemand klagen.  Du aber
	
	
    
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