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Die Markgralschaft-
13
Der elfte Baum
Der alte Gefängniswärter war
einem guten Tropfen nicht abgeneigt
. Die blauen Äderchen auf
seiner gutmütigen, breiten Nase
konnten es nicht leugnen. Er hat
vielen Schicksalen die Tür verriegelt
und vielen wieder die Tür
geöffnet. Er ist dabei weiß geworden
, schlohweiß, aber nicht hart.
Er tat seine Pflicht, jawohl, aber
seine Seele war die eines Kindes,
das mitleiden kann. Von ihm habe
ich die Geschichte gehört. Ihr mögt
sie nun rührend nennen oder erfunden
: ich habe sie geglaubt.
Sie haben ihn im Winter gebracht
, sagte der alte Thomas.
Weder abgerissen, noch halbverhungert
sah er aus, das junge
Bürschchen, kaum zwanzig, ich sah
wohl, daß das keiner von den ganz
Schlimmen war. Er ist wohl in
eine dumme Geschichte mit einem
Mädchen hineingerissen worden,
das Messer spielte natürlich eine
Rolle, das diesen Burschen so
locker sitzt. Hans Wies ließ sich
nicht schlecht an. Er war sauber
und hielt auf Ordnung. Zu mir
hatte er großes Zutrauen, und ich
sehe sein Knabengesicht noch vor
mir, als er mir seine Geschichte
erzählte. So ging es in das Frühjahr
, und seine Strafe war schon~
zur Hälfte abgesessen, als er anfing
unruhig zu werden. Wir sehen
das ja gut, wenn einer anders wird.
Sie schrecken dann auf, wenn man
in die Zelle kommt, oder sie stehen
am Fenster und starren hinaus und
merken es gar nicht, wenn die Tür aufgeschlossen
wird. Am Abend sagte ich noch zu Hans: mach
keine Dummheiten. Der Hans sah mich entsetzt an,
als wollte er sagen, wieso wißt Ihr denn, was ich
vorhabe? Am andern Morgen war er nicht mehr
da. Als das Mittagessen verteilt war, läutete es
Sturm draußen am Tor. Der Hans stand draußen,
allein. Nun, es geschah das übliche. Er wurde
Kirchgang
Holzschnitt von Bodo Zimmermann
verhört, aber er schwieg zäh. Er wurde bestraft
und er schwieg. Erst als ich für ihn die Zelle
endgültig aufschließen durfte, gestand er, wete-
halb er in jener Nacht ausgerissen war. „Ich habe
zu jedem Geburtstag meiner Mutter einen kleinen
Baum in unseren Garten gesetzt. Zehn kleine
Bäumchen hatte ich schon gepflanzt. Ich fand,
daß das elfte nicht fehlen durfte". Gis
Der vergeßliche liebe Gott
Gert durfte mit Mutti an den Neckar zum
Baden. Er vergnügte sich springend und spritzend
im Wasser mit anderen Kindern. Plötzlich gab
es ihm einen Schreck, als er ein nettes Nacktfröschlein
aus dem Wasser steigen sah. Aufgeregt
rannte er zu seiner Mutter und riß sie an der
Hand mit sich fort. „O, do ischt was Schrecklichs
passiert; komm schnell ond guck!"
Mutter erschrak auch und eilte mit ihm zum
Badeplatz der Kinder. Da war aber nichts zu
sehen, was nach Unglück aussah. Alle Kinder
waren vergnügt, und ein kleines nacktes Mädelchen
ständ da und lachte sie an. Gert deutete auf
das Kind und sagte: „Do guck doch. Wie schrecklich
! Do hat der liebe Gott was vergesse!" — Er
hatte zum ersten Mal ein Mädelchen gesehen,
wie es Gott erschaffen hatte. —
Als dann nach Monaten daheim ein kleines
Schwesterchen zur Welt kam, war die Freude bei
Gert groß. Wenn es gebadet und gewickelt wurde,
war er meist zur Stelle. Lange Zeit schaute er zu,
ohne ein Wort zu sagen. Endlich, nach Wochen,
fragte er besorgt: „Ja, »wächst denn an das Kind
nichts mehr hin?" — Er hatte gesehen, daß auch
da der liebe Gott etwas vergessen hatte, j. Pr.-M.
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