Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1953-06/0003
Die Markgrafschaft

Nr. 6/5. Jahrgang

Monatszeitschrift des Hebelbundes

Juni 1953

Ancjesidhts unserer selbst

Schön sind die langen Dämmerungen, in denen
der Lärm des Tages verebbt. In der sanften
Abendstille geht vieles zur Ruhe, die metallenen
schrillen Geräusche, das Klopfen und Hämmern,
draußen und drinnen. Das harte, gleißende Licht
des Mittags versinkt in den weichen Farben des
abendlichen Himmels mit seinen Ubergängen aus
Gold und Violett, aus Purpur und Azur, deren
Mischung alle Farben des Tages unendlich feiner
wiederholt. In der kühlen Stille ist es, daß der
unruhige Mensch mit angehaltenem Atem jene
andere Welt in sich erstehen fühlt, die vom
Abendstern beglänzt aus der Tiefe unseres
Wesens sich offenbart. Und wer von uns wäre
nicht schon in der letzten Neige des Tages still
an den Ufern seines Herzens gesessen, daß er die
innere Strömung höre, die da geht zwischen den
Zeiten, zwischen den Tagen des Glückes und der
Leiden, zwischen Licht und Dunkel, zwischen
heute und morgen. In der milden Luft unserer
Herzlandschaft, in der wir im leisen Abendwind
unsere Melodie finden, die wir in den Lärmbezirken
zeitlicher Wirklichkeiten verloren
haben, in dieser inneren Schau überkommt uns
das Erlebnis aufgetaner Klarheit, die nun entsteht
gleich jener, die über dem mondhellen
Lande liegt. Sie ist die Tröstung derer, die in
den Abgrund menschlicher Existenz gestiegen
sind und dort beginnen, sich selbst zu begegnen
und in dieser Begegnung den nach dem Bilde
Gottes geschaffenen Menschen finden, der sich
in der Hand Gottes weiß und dessen Atem
über sich spürt. Die Klarheit der Bezüge zur
ordnenden Mitte ist das Erlebnis einer solchen
Stunde, die den Menschen wahr macht und ihn
unterscheiden läßt zwischen Wesentlichem und
Unwesentlichem, zwischen Vergänglichem und
Unvergänglichem, zwischen funktionellem Recht
und dem jene Bezüge zur Mitte störenden
Unrecht.

Der zur Wahrhaftigkeit geklärte Mensch ist
es, um den wir uns zu bemühen haben. Wir
meinen, daß uns in der metallenen Kälte unseres
Zeitalters, in dem die brüderliche Liebe zu verkümmern
droht, die Wahrheit noch eine ordnende
Kraft bedeuten kann. Angesichts unserer
selbst, unserer menschlichen Existenz, die wir in
den tieferen Schichten des Bewußtseins erfahren,
angesichts unserer innerster Heimat in der Hand
Gottes, sei uns die Wahrhaftigkeit Quell wirklichen
Lebens, Quell auch der verständnisvollen
Beziehungen zum Bruder, der sich selbst zur
Wahrheit bekennt.

Das Bekenntnis zur Wahrheit ist, wie wir
glauben, eine Vorbedingung zur Gesundung auch
des öffentlichen Lebens. Wir waren und sind
Zeugen vergiftender Unwahrheiten. Wir erleben
Versprechungen, die zu halten nie beabsichigt
war. Wir erleben Verleumdungen, Lügen und

Halbwahrheiten, die dem Egoismus von Interessenten
politischer, wirtschaftlicher und kultureller
Gruppen entspringen. Wir meinen dazu, es
sei an der Zeit, einzusehen, daß es eine
gemeinsame Wahrheit gibt, von der
her die ordnenden und wägenden Kräfte des
öffentlichen Lebens sich herleiten lassen. Wir
meinen, die Interessentengruppen, die sich in
den jetzt wie Pilze aus dem Boden schießenden
Interessengemeinschaften organisieren, laufen
leicht Gefahr, ein Zipfelchen Wahrheit für die
ganze Wahrheit zu glauben. Die praktizierte
Unvernunft so vieler politischer
und wirtschaftlicher Rechthabereien
führt zu nichts. Die Läh-
mung der g e m e i n s c h a f t s b i 1 d e n d e n
Kräfte geht auf ihr Konto, zumindest
zu einem ganz erheblichen
Teil.

Wir haben hier nicht die Absicht, ein politisches
Referat zu geben, und wir erinnern uns
sehr wohl daran, daß die Verantwortlichen unserer
Schrift politische Enthaltsamkeit erwarten;
aber wir dürfen doch wohl auf den menschlichen
Grund des Politischen hinweisen, dort, wo
menschliche Fehler und Schwächen im öffentlichen
Leben so unmittelbare Folgen zeitigen.
Freilich: wir selbst müssen beginnen, unser
Leben wahr zu machen. Wenn wir selbst von
unseren kulturellen Bemühungen sprechen, dann
müssen wir wahr in der Absicht sein. Wir selbst
müssen Sorge dafür tragen, daß der Wein, den
wir als Wein reichen, auch Wein ist. Wir haben
uns — wir als Menschen, die sich unter der
milden Fahne eines gütigen Dichters zusammenfanden
— wir haben mehr als je darauf zu
achten, daß wir das Wahre schätzen. Das Wahre
ist das Echte. Jedermann zieht das Echte dem
Unechten vor. In den praktischen Dingen, im
Verständlichen, können wir uns wohl alle verstehen
und vertragen. Aber wenn wir darüber
nicht hinauskommen, dann sind wir nicht mehr
als ein Gespann Ochsen, das unter dem Joch
geht, weil es eben so gehen muß. In den praktischen
Dingen ziehen wir das Echte dem Unechten
vor, weil es uns vorteilhaft erscheint und weil
der Normalmensch diese Unterscheidung in der
Regel leicht treffen kann. Aber hier kommt es
uns auf jene andere Unterscheidung, auf jene
andere, in der menschlichen Existenz, in der
menschlichen Bezügen begründete Wahrheit an.

Wenn wir einmal uns in einer jener stillen
Stunden selbst gewahr wurden, dann dürfen wir
uns nur wünschen, daß die Gelegenheit zur
Wesensschau, oder besser gesagt, die glückliche
Fügung einer solchen Stunde uns befähigt, in
und um uns Ordnung zu schaffen, die die rechte
Wertabstufung in sich birgt.

L. Börsig


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1953-06/0003