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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1953-11/0003
Die Markgrafschaft

Nr. 11/5. Jahrgang

Monatszeitschrift des Hebelbundes

November 1953

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V

Ein paar besinnliche Gedanken

Am Nachmittag des 16. Oktober dieses Jahres
trieb mich eine sonderbare Unrast auf das Röttier
Schloß, und erst als ich vom Rittersaal aus das
Tal hinaufschaute und mein Blick auf der Stelle
oberhalb Brombach ruhte, wo wir vor fünf Jahren
einen Gedenkstein für Hebels Mutter angebracht
und eingeweiht haben, kam mir die Erinnerung
, daß ja heute ihr 180. Todestag sei — und
es war gerade um die Stunde, die auch das
Kirchenbuch von Haüsen angibt: „ohngefähr
4 Uhr". Hebels „Vergänglichkeit" kam mir in
den Sinn, und ich zitierte das Gedicht aus dem
Gedächtnis vor mich hin, dieses eigenartig schöne
und unvergängliche Dokument der für Hebel
schicksalhaft gewordenen Sterbestunde seiner
Mutter. Es ist doch merkwürdig, so dachte ich
dort oben vor mich hin, daß dem 41jährigen
blitzlichthaft und jäh im Gedächtnis aufleuchtet,
was er 28 Jahre zuvor erlebt hatte. Und die
Dichtung steht auch in ihrer Art in eigentümlichem
Gegensatz zu seinen übrigen alemannischen
Gedichten. Spricht sich in ihnen eine deutliche
Daseinsfreudigkeit und Lebensbejahung aus,
weil diese Erde aus Gottes Schöpferhand hervorgegangen
ist und der Dichter mit den Augen
Gottes sieht, daß es gut war, so tut sich in der
„Vergänglichkeit" eine offensichtliche Verneinung
dieser sichtbaren Welt kund, die mit zwingender
Notwendigkeit ihrem stetigen Verfall entgegentreibt
, und eine sonst nicht gekannte Lebensflucht
offenbart sich hier,- die in dem tragischen
Schlußwort gipfelt: „Und möcht jetz nümme hi".
Es ist gewiß und fraglos die Stimme der Mutter,
die aus dem „Ätti" in der „Vergänglichkeit"
spricht — und vielleicht in keinem Gedicht so
vernehmlich wie gerade hier, wo er nach seiner
Eigenart, die er uns in manchen Briefstellen verrät
, eben da die Mutter nicht auftreten läßt, wo
er sie in ihren ernstesten Lebensanschauungen
wiedergibt. Denn diese Mutter Ursula war, wie
dies aus manchen Briefstellen Hebels hervorgeht,
eine sehr ernste Frau, streng lutherisch in ihren
Glaubensgrundsätzen, und dazu anscheinend, wie
dies der alemannischen Wesensart liegt, von herber
Schwerblütigkeit und Schwermütigkeit und
daher oft zu Gemütsdepressionen neigend. „Wenn
sie durch die Brille Davids schaute", wie Hebel
es später ausdrückt. Diese ihre Lebensangst ließ
sie anscheinend zu einer verneinenden Einstellung
gegenüber aller „Herrlichkeit der Erden"
und zu einer starken Orientierung auf das Jenseits
gelangen, eben wie es „Die Vergänglichkeit"
darstellt. Diese Ausschau nach der transdezenten
Welt wiederholt sich zwar bei Hebel sehr oft,
aber nie auf dem Hintergrund der Nichtigkeit
alles Irdischen wie in dieser Dichtung. Nur eines
betont er immer wieder: Die Unwichtigkeit des

einzelnen Menschen, der sich meist viel zu wichtig
nimmt. Ja, gerade die Ewigkeit wird erst die
Unterschiede gerecht ausgleichen, „Gott het im
Himmel Chrone", nämlich für die Armen und
auf dieser Erde Unbedeutenden.

Und bei dieser Besinnung kam mir ein Satz
wieder ins Gedächtnis, den ich wenige Wochen
zuvor in Schwetzingen gehört hatte: Der dortige
Vortragende, Stadtpfarrer Dr. Stürmer, Mannheim
, sagte: Hebel hat aus seinem Auferstehungs-
glauben heraus gedichtet und kann nur von dorther
verstanden werden. Diese These, die mich
zuerst aufmucken ließ, hat mich seitdem beschäftigt
, und je mehr ich darüber nachdenke, umso
mehr muß ich dieser Behauptung Recht geben.
Es isti in der Tat so, daß Johann Peter Hebel sein
unerfüllt gebliebenes Heimweh nach seinem
Markgräfler Oberland schließlich in die obere
Welt projiziert hat und daß ihm dadurch seine
irdische Heimat wie auch seine eigene Mutter in
überirdisch verklärter Gestalt erschienen ist.
Aber gerade diese Tatsache bewirkt die starke
Anziehungskraft, die Hebel immer wieder und
für alle Zeiten auf die Menschen ausübt.

Und noch ein anderes Wort habe ich mitgenommen
von der sehr würdigen Hebelgedenkfeier
in Schwetzingen. Der dortige Stadtpfarrer
Müller sprach gerade von diesem Heimweh, das
uns Menschen in unserer nervenaufreibenden
und seelenlosen Gegenwart überkommt, wenn
wir uns in J. P. Hebel vertiefen. Und ich mußte
so an seinem Grabe denken, ob er angesichts dieser
schnellebigen Zeit und all den hastenden
Menschen der Motore nicht aus seinen verklärten
Höhen den Wunsch wiederholen möchte: „Un
möcht jetz nümme hi!"

Aber wir möchten irgendwie wieder hin zu
ihm und seiner beseelten Welt voll reiner Beschaulichkeit
. Freilich wir wollen nicht einer
falschen Romantik das Wort reden, und wir
können auch nicht das Rad der Zeit und ihrer
Entwicklung zurückdrehen. Und wir mußten
vielleicht in eine solche Gegenwart des Aneinan-
der-vorbeihastens und mangelnder Besinnlichkeit
geraten, um dadurch Hebel noch besser zu verstehen
und tiefer zu erfassen. Diese Spannung
des Heimwehs nach ihm ist heilsam für uns. Am
Eingang zu der schön gepflegten Anlage, in der
Hebels Grab liegt, steht bezeichnenderweise angeschrieben
: „Nur für Patienten!" Gemeint sind
die Patienten aus dem dahinter stehenden Krankenhaus
. Oder sind nicht am Ende auch wir
Patienten, die in tiefster Seele ein Heimweh mit
sich herumtragen? Ein Heimweh nach einer stillen
, von Gott her beseelten Welt? Ja, wir möchten
wieder hin zu Hebel. Richard Nutzinger


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