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Die Markgrafschaft
steht, das ist das Himmelslicht einer ausgleichenden
und heilenden Ewigkeit; das lassen wir uns
durch den Ätti in der „Vergänglichkeit" und
durch den „Wächter in der Mitternacht" künden.
Wir könnten mit diesen Nachweisen fortfahren
; das Erwähnte genüge uns, um zu erkennen
: „Was darüber ist, das ist vom Hebel" — und
es genügt wohl auch, um uns erkennen zu lassen,
wie wenig wir in unserer Gegenwart von all
diesem „Darüber" halten und wie wenig wir
uns halten an die Besinnung auf dies friedvolle,
versöhnliche Darüber, das uns Hebel aufzeigt,
und wie sehr wir daher alle in Gefahr stehen,
uns vom Tempo unserer Zeit willenlos mitreißen
zu lassen und unterzugehen statt darüber zu
stehen. Wenn Hebel heute noch leben würde, ob
HERMANN BURTE
Aristoteles, dessen Lehre das heidnische und
christliche Denken zweitausend Jahre lang beherrschte
, hat einmal gesagt, man erkenne die
Natur einer Sache am besten in ihren kleinsten
Teilen. Auf die Dichtung angewendet, müßte in
den Wörtern als Atomen, in den Zeilen als Molekülen
das Wesen des Ganzen am klarsten zu erkennen
sein. Das Wort, allein gestellt, sagt nichts
aus: aber die Zeile ist geradezu offenbarend.
In Hebels Dichtung ist alles von lichter Schau
und klarer Sprache: aber in einzelnen Zeilen,
von denen hier ihrer sieben herausgegriffen sind,
zeigt sich überraschend nicht nur die ganze Herrlichkeit
des Werkes, sondern auch ein wenig das
Geheimnis seiner Wirkung.
» Und d'Mitternacht sChnuuft vo de Berge her« —
In der Nacht weht von den Bergen her die
kühle Luft in die Täler hinab: Talwind nennen
ihn die Leute, aber er müßte nach seiner Herkunft
eigentlich Bergwind heißen. Der Dichter
sieht die Nacht als blauschwarze Riesin auf den
Bergen lagern und in die Welt hinausatmen. Er
erhebt einen physischen Vorgang in die Mythologie
. Das Wort „schnuuft" ist an naturnachahmender
Kraft dem „atmet" überlegen. Das
ganze Bild, in einer Zeile, ist voll natürlicher
Wahrheit und gesteigerter Schönheit.
»Er sdblofi, er sdhlofl, do lyt er wie ne Grof« —
Viermal kehrt das tieftonige, unterschichtige
O in dieser Zeile wieder, durchweht von dem
Atem der drei F, dem Hauch des schlafenden
Kindes. Man empfindet die Verwandtschaft des
Bettes mit dem Grabe (auf dessen Stein der Graf
schläft) — die Suggestion ist für ein empfindsames
Ohr überwältigend und bezwingend.
»Braüi Dosdhe hüete dort e zaidtnete Chörper« —
Die beiden ersten Worte drücken das gedehnte
Lagern der Tiere erschöpfend aus; in
dem Wort „Dosche" klingt das verwandte, noch
breiter hingeblätterte „Daische" . mit an. Das
„hüete" ist vortrefflich gewählt: Der Dosch muß
sich hüten, weil er auffallend gefärbt ist. Aber
er uns nicht wohl ein Gedicht schüfe, durch das
er uns anschaulich davor warnen würde, das
große Darüber über unserem kleinen Dasein zu
vergessen und zu übersehen, um uns davor zu
bewahren, daß wir „drüberhinauskommen", wie
man so treffend von den Menschen sagt, die sich
von der Last und Hast des Lebens haben erdrücken
lassen?
Schopfemer Schülerlein, du hast mit deinem
verkehrten Nachsagen ahnungslos eine große
Wahrheit ausgesprochen, die uns Hebelfreunden
ein steter Fingerzeig sein soll. Mögen der Hebeltag
und alle Hebelfeiern 1954 selbst dazu dienen,
uns und vielen Menschen unserer Heimat zu
diesem Darüber, wie es uns Hebel zeigt, zu
verhelfen! Richard Nutzinger
ganz außerordentlich ist der Ausdruck „zaichnete
Chörper". Er gibt die Erscheinung des häßlichen,
mit Linien und Flecken versehenen Tieres trefflich
wieder. Zugleich aber hat das Wort „zaichnete
" den Sinn: vom Schicksal gezeichnet, verflucht
! Der häßliche Dosch ist ein Sinnbild für
die schauerliche Landschaft, in der sich der Mörder
der eigenen Frau d^n Hals abschneidet, im
„Karfunkel".
»Er glänzt wie d'Sunn am Sdhwyzersdonee« —
Das ist im „Knaben im Erdbeerschlag" eine
ganz einfache Zeile; doch gibt sie in einer
Sprache, wie sie jeder Bauer oder Weber im
Lande spricht, das Schimmern der weißen
Engelsflügel in einem einprägsamen Bilde wieder
. Es ist ganz wunderbar, wie dieser aus der
Anschauung des Irdischen gegriffene Vergleich
für den Glanz des himmlischen Wesens zutrifft:
von den Höhen des Markgräflerlandes aus gesehen
, hat die sonnenbeglänzte Firnkette der Alpen
in» ihrem perlmutterigen Glänzen etwas Jenseitiges
, Erhabenes, Unirdisches — alles Eigenschaften
ebeni des Gastes aus dem Himmel. Solche
Zeilen sind wie das Ei des Columbus: wenn sie
dastehen, meint mancher, das hätte er auch gekonnt
: Er irrt!
»Det Vogel sdowangt so tief und still,\
er weiß nit, woner ane will«.--
„Das Gewitter" ist ein grandioses Gedicht,
wirksam durch den Gegensatz der tobenden
Elemente und des ruhig schlafenden Bübleins
in der Wiege. Die beiden Eingangszeilen sind
geschaffen wie die ersten Akkorde einer Beet-
hoven'schen Symphonie: weisender Klang für
das Ganze. In einem famosen Büchlein hat der
Schweizer J. G. Burckhardt geschildert, wie er
bei einem Buchhändler in Paris auf eine Übersetzung
dieses Gedichtes in das Französische
stieß, eine Ubersetzung, die ganz unfähig * war,
die tiefen, untertauchenden Laute des Originals
wiederzugeben, ja es vielleicht nicht einmal anstrebte
. Wie soll man das gefühlgeladene alemannische
„ane" übertragen? Die beiden Klänge
©leben feilen uon f>ebel
Ein Versuch
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