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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1954-05/0010
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Die Markgrafschaft

Der Herr Stephan hat Bändchen und Widmungsblatt
, in Ehren gehalten. Noch als alter
Mann wußte er alle alemannischen Gedichte auswendig
. Den Basler Hebelfreunden um die Mitte
des letzten Jahrhunderts gab er sein Wissen um
das Weiler Pfarrhaus und seine Bewohner weiter.
Er erlebte es noch, daß in der köstlichen Basler
Festgabe zu Hebels 100. Geburtstag Friedrich
Becker zum ersten Male mit dem Zauber von
Hebels Briefen an den Freund Hitzig und an
Gustave Fecht bekannt machte. An Becker ist
nach des Herrn Stephan Tod 1867 das Büchlein
mit dem Widmungsblatt gekommen und als sein
Geschenk 1876 an die Basler Universitätsbibliothek
gelangt. Wie ein Gewöhnliches Buch hat es
dort nach dem Datum des Einganges und nach
den Gesetzen der systematischen Ordnung seine
Signatur und seinen Platz auf den Regalen erhalten
. Aber dem, der es aufschlägt und seine
Augen auf den Zügen von Gustaves Hand und
auf dem Titelblatt ruhen läßt, dem steigt in
eigener Bewegung das Menschenpaar auf, das
nicht wie Wiese und Rhein zusammengekommen
war und dem wir dafür das beglückende Wunder
der Alemannischen Gedichte verdanken, und mit
dem Paare vereint der zu ihm gehörende einfache
Pfarrhausknecht, der Herr Stephan.

Wilhelm Altwegg

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Es ist nichts lehrreicher als die Aufmerksamkeit
, wie in dem menschlichen Leben alles zusammenhängt
, wenn man es zu entdecken vermag
, zum Beispiel Zahnschmerzen und das Glück
eines Ehepaares, und wie selbst das, was unrecht
und verboten ist, wieder gutgemacht werden
kann, wenn's an den rechten Mann oder an die
rechte Frau kommt, und wie in dem großen,
unaufhörlichen Wechsel der Dinge alles einzelne
wieder verschwimmt, daß man ihm nimmer nachkommt
, und doch getan bleibt und nicht verloren
geht, es sei gut oder böse. Gleich als wenn
man ein Glas Wasser in den Rhein ausgießt, kein
Sterblicher ist imstand, es wieder herauszuschöpfen
, sondern es ist jetzt dem Rhein vermählt
und augenblicklich verschwemmt in der
großen Flut. Ja, wenn die Sonne Wasser aufzieht,
wie man zu sagen pflegt, sind ein paar Tröpflein
davon vielleicht auch dabei und fallen irgendwo,
in Bayern oder Lothringen, wieder aus einer
Wasserwolke vom Himmel herab und erquicken
ein Blümlein.

Eine Dienstmagd, jung und brav, auch hübsch,
und ein Knecht gleicher Qualität dienten miteinander
auf einem Edelhof und hätten nicht so
gerne Kaffee getrunken oder alle Tage Braten
gegessen, als vielmehr einander geheiratet. Allein
sie waren Leibeigene, insoweit, daß sie verpflichtet
waren, eine gewisse Zeit Hofdienste zu tun,
und die Edelfrau auf dem Hofe wollte sie nicht
früher aus dem Dienst entlassen, weil sie so brav
waren in ihrer Aufführung und so fleißig und
treu in ihren Geschäften. Deswegen saßen sie oft
beisammen und weinten, oder sie weinte, und er
nagte an einem Holzsplitter. Ein andermal, wie
die menschliche Laune wechselt, sprachen sie sich
Mut ein, daß es ja nur noch um zwei Jährlein
zu tun sei, und freuten sich schon zum voraus
ihres zukünftigen Glücks, „wenn du mein Weib
bist" — sagte er — „und ich dein Mann", und
einmal vergaßen sie sogar die Zukunft und meinten
, es sei jetzt. Nach Verlauf aber eines Jahres

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hat die Frau auf dem Edelhof in der Nacht
desperates Zahnweh, nicht gerade deswegen. Sie
steht aus dem Bette auf und wirft sich auf einen
Stuhl, die läuft aus einer Stube in die andere,
aus der andern in die dritte. In der dritten setzt
sie sich gegenüber einem Fensterlein, das in die
Küche geht, mit einem weißen Vorhang davor,
und das Zahnweh wird ihr nun bald vergehen.
Sie sitzt jetzt am rechten Orte dazu. Denn auf
einmal sieht sie hell werden hinter dem weißen
Vorhang, sie hört etwas sich bewegen, sie hört
etwas flüstern und knistern, sie schiebt leise das
Vorhänglein weg, und in der Küche stehen der
Knecht und die Magd an einem Feuerlein nachts
um zwölf Uhr und legen Späne an das Feuer,
und auf dem Feuer steht ein Pfännlein. —
Bereits gibt das Zahnweh ein wenig nach. —
„O ihr gottloses Lumpenpack", sagt sie inwendig
für sich. „So ist denn keinem Menschen mehr zu
trauen. Habt ihr nicht alle Tage euer ordentliches
Essen. Ist es euch nicht genug? Müßt ihr mich
noch in der Nacht bestehlen und Leckerbissen
kochen!" Nach einiger Zeit stellt das Weibsbild
das Pfännlein von dem Feuer, als ob sie jetzt die
Leckerbissen verzehren wollten, der Knecht aber
geht zur Tür hinaus. — „Wie der Tag anbricht,
laß ich beide in das Gefängnis werfen", so fuhr
die Edelfrau fort, ,,und jage sie weg ohne ehrlichen
Abschied. Am Ende wird mir die Dirne
auch noch schwanger von dem Burschen in meinem
eigenen Haus. So weit soll's mir nicht kommen
". Indem kommt der Knecht zurück und
bringt ein vierteljähriges Kind auf dem Arm
und gibt's der Mutter auf den Schoß. Da hörte
plötzlich das Zahnweh der Edelfrau auf wie weggeflogen
. Die Mutter gibt dem Kindlein aus der
Pfanne den Brei, sie legt es an die mütterliche
Brust, und der Schein des abnehmenden Feuers
ging zur rechten Zeit über ihr Angesicht, als sie
mit nassen Blicken ihr Kindlein noch einmal
beschaute und dem Vater zurückgab und etwas
zu ihm sagte. Denn da ward das Herz der Edelfrau
wunderbar bewegt und kam auf andere
Gedanken. Denn es war ihr, als ob die Mutter
mit dem nassen Blick gesagt hätte: ,,Gott wird
des armen Würmleins sich auch erbarmen", und
als ob sie dazu bestimmt wäre. Ja, es fuhr ihr
mit Grausen durch die Seele, was für ein Un-


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