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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1954-05/0014
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Die Markgralschaft

i>ec ©ctjulauöflug

„Der Himmel ist blau, das Wetter ist ischön,
Herr Lehrer, wir wollen spazieren gehn!"

Die Verse sind, wie Hebelkenner sagen, nicht
von Hebel, aber sie könnten von Hebel sein,
in ihrer leuchtenden Frische ganz aus dem großen
Feiertag heraus gesungen, der für Hebel an
Ostern anbricht und für Wochen die Seelen nicht
aus dem Feiertagsgewand herauskommen läßt.
Das sind die Tage, wo der junge und der alte
Lehrer, wenn er sein Schulmeisterherz auf dem
rechten Fleck trägt, die obige Bitte ums „Spazie-
rengehn" stündlich aus den Augen seiner Buben
und Mädchen lesen kann. Jetzt mußt du, liebes
Schulmeisterherz (oder soll ich sagen „liebe
Lehrkraft", wie dich die Herren von der Verwaltung
oder von der Zeitung der Kürze halber
oder in technisch-stolzer Anlehnung an „Pferdekraft
" nennen?), jetzt, liebes Schulmeisterherz,
mußt du nicht selbst — symbolisch gesprochen —
manchmal die Zähne zusammenbeißen vor dem
blauen Himmel in den oberen Scheiben deiner
Schulfenster und vor dem eigentümlichen Frühlingsgeruch
in der Luft?

Vernat, sagt der Lateiner, es frühlinglet übersetzt
es ein deutscher Dichter, und schnuppert
nicht aus dem Wort eine seltsame Unruhe? Jetzt
mußt du mit scheinbarer Sachlichkeit und
Strenge im Unterricht oft den Befehl zum
Schließen der Fenster geben. Der Straßenlärm!
Es zieht auch! Es wird zu kühl! Arbeiten! Aufpassen
! Und wie die durch langen Gebrauch
etwas abgenutzten pädagogischen Sprüchlein
lauten. Der Junge am Fenster schaut dich an
mit dem wissenden Blick des Tertianers, der
seinem Lehrer ins Herz schaut, und — er schließt
das Fenster ohne Zögern aus tiefster Erkenntnis
des Satzes vom zureichenden Grunde. So geht es
Tag für Tag, bis der Schulausflug auf morgen
vor der Türe steht.

Nun gehts an die Muttis. Es gibt zwei Arten
von Muttis. Die einen, mit einem guten Schuß
Vernunft in der Mutterliebe, sagen: mein Bub
verhungert nicht, und diese Muttis füllen ihrem
Jungen oder ihrem Töchterchen den Rucksack
nur mit dem Nötigsten. Brot, ein Stückchen
Fleisch — Wurst macht Durst, schon des Reimes
wegen — und gegen den Durst ein paar Äpfel
oder Orangen. Geld? Liebe Mutti, sei vorsichtig!
Gibst du ihm mehr als eine Mark, so kauft der
Schlingel Zigaretten, freilich meistens nur dann,
wenn der Lehrer das Rauchen verbietet, aber
selber raucht. Erlaubt der Lehrer das Rauchen,
raucht aber selbst nicht, macht auch den Jungen
das Rauchen schnell keinen Spaß mehr. Die
zweite Art der Muttis stopft dem armen Jungen
oder dem Mädchen den Rucksack so voll, daß die
Träger keuchen wie Lasttiere. Der geneigte
Leser wird gebeten, folgende Aufzählung nicht
für erfunden zu halten: Im Rucksack eines vor
dem Krieg von Basel zu einem Schulausflug
nach Lörrach kommenden Jungen befand sich
folgender Eßvorrat: 22 Orangen, eine große Hartwurst
, ein Schnitzel, ein Glas Marmelade, vier

Eier, sechs Brötchen, dazu Dextro-Energen (der
Junge strotzte vor Kraft), eine kleine Taschenapotheke
, Nähzeug, eine „Guttere" Orangensaft
in Bierflaschengröße, Seife und noch anderes. Da
nicht die Besteigung des Montblanc, sondern nur
die Hohe Möhr als Ausflugsziel vorgesehen war,
verteilte der Lehrer die überflüssigen Vorräte
an die Kameraden unter freudigem Aufatmen
ihres Besitzers. Die Mutter empfing am Abend
ihren freudestrahlenden in Erzählungen vom
Ausflug nicht enden wollenden Jungen. Aber
von der wunderbaren Eßwarenverteilung erzählte
er nichts. Das Schlitzohr, wußte er schon soviel
von den Frauen? — Ganz anders erging es jener
Mutti, der die Rückkehr ihres Töchterchens am
Abend einen Aufschrei entlockte. An dem weißen
Kleidchen zogen sich mißfarbene Streifen herunter
, die weißen Söckchen waren violett gefärbt,
auf den Wangen des Kindes hingen die Krusten
vertrockneter Tränen. Was war geschehen? Die
Mutter hatte dem Kind beim Aufbruch eine
große Feldflasche mit gepreßtem Kirschensaft
umgehängt, die dem Mädchen während des
Marsches um die Hüften baumelte wie dem
Galeerensträfling seine Kugel. Die Feldflasche
ward leck, und der blaue Saft rann in melancholischen
Fäden die Beine entlang, färbte die
Söckchen erst bleigrau, dann veilchenfarben und
sammelte sich schließlich zu einem kleinen See
in den Schuhen, die bei jedem Schritt feucht
aufquietschten, eine Musik, die den Kameraden
Gelächter, dem Mädchen aber bittere Tränen
abnötigte.

Der Morgen des großen Tages bricht an.
Grau und kühlt steht noch der Himmel. Nun
nimm alle Kraft zusammen, armes, reiches, viel
geplagtes und viel verkanntes, und doch wie kein
anderes überreich belohntes Schulmeisterherz!
Der heutige Tag kann dein glücklichster und
dein unglücklichster Tag werden! Glücklich wird
der Tag sein (unter der Voraussetzung, daß euch
der Teufel kein Extrabein stellt in Form von
Zugkatastrophen, betrunkenen Autofahrern oder
eines mißgelaunten Bammerts), wenn du das
Ureinfache in der Forderung deiner Schüler
begriffen hast: wir wollen spazierenge
h n! Keine Reise ins Ausland, keine „wissenschaftliche
" Exkursion! Wir wollen uns einmal
auspendeln lassen aus den Forderungen des
Schul- und Alltagslebens, aus dem Joch des von
Zwecken und Absichten befohlenen Pflichtdaseins
. Einmal ganz frei sein, ganz froh sein im
Rhythmus der ziehenden Wolken und leichten
Gespräche. Darum laß alle Belehrungen beiseite,
nichts von der Schönheit der Landschaft, nichts
von der edlen Linie des Gebirges! Die Kinder
hören dir gar nicht zu und lachen ein wenig über
deine Herzensergießungen, denn Kinder haben
vor 18 Jahren kein Landschaftsgefühl. Sie sehen
weder elegische Sonnenuntergänge, noch den
Wald, der ,,schwarz und schweigend" steht. Aber
sie sehen dich, liebes Kollegenherz, mit dir
wollen sie Spazierengehen, und was das heißt,
wirst du bald merken. Sie ruhen nicht, bis sie


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