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I
Die Markgrafschaft
Die ältere Generation, soweit sie ländlicher
Herkunft ist, weiß noch um die seltsame, etwas
unheimliche Schar, die ab und zu ins Dorf kam
und den Leuten ein Geschehnis der jüngsten Vergangenheit
, schaurig aufgemacht, vorführte und
unter Musikbegleitung vorsang. Es war — lange
vor Wagner — totales Theater, es war die
Morithat. Meistens bestand das „Personal"
aus zwei Männern und zwei Frauen. Die Frauen
trugen eng anliegende, hochgeschlossene Taillen
in einem melancholischen Braun. Auf dem ungepflegten
Haar saß meistens ein Kapotthut, etwas
„Besseres" vortäuschend, aber eilig und ohn«*
Spiegel aufgesetzt. Die beiden Männer waren
ebenfalls dunkel gekleidet, eng anliegende Hosen
und Jacken, im Gesicht die Falten einer eingefrorenen
, etwas vorwurfsvollen Traurigkeit, wie
man sie bei Personen oft findet, die berufsmäßig
mit Leichen oder sonst mit den letzten Dingen zu
tun haben.
Der die Drehorgel tragende Karren mit den
achterschwankenden Rädern hielt auf dem Dorfplatz
, und die Mimen machten sich alsbald an ihr
Werk. Während eines Solospieles der von einer
der Frauen bedienten Drehorgel zog einer der
Männer ein zusammengerolltes Wachstuch von
der Größe einer Schullandkarte aus einer Hülle
und befestigte das Plakat an einer zu diesem
Zweck mitgeführten Stange, an der es nun hing
wie eine Fahne. Der zweite der Männer hielt die
auf den Boden gestellte Fahne fest und schaute
unverwandt in das sich allmählich ansammelnde
Publikum, sei es, daß er die Wirkung der nun
beginnenden Vorführung beobachten, sei es —
was wahrscheinlicher ist — daß er der mit dem
„Sammeln" beginnenden zweiten Frau mit den
Augen den Weg zu den zahlungsfähigsten und
zahlungswilligsten Zuhörern zeigen wollte.
Und nun begann das Spiel. Dieses setzte sich
zusammen aus dem, was sich, in Felder eingeteilt,
auf der Tafel dem Auge darbot, und dem dazu
gesungenen erklärenden Text. Der Inhalt der
Morithat war der säuberlich in einzelne umrahmte
Felder eingeteilte Ablauf eines kriminalistischen
Geschehnisses, meistens eines Mordes
mit Verhaftung durch den fast immer mit Namen
genannten Gendarmen (er hieß meistens Bastian),
mit darauf folgender Gerichtsverhandlung und
Hinrichtung des oder der Schuldigen. Denn mit
Vorliebe war der Held der Morithat eine Frau,
meistens eine aus der nie aussterbenden Schar
der unglücklichen Kindsmörderinnen. Während
nun der Mann mit dem Zeigestock von Feld zu
Feld deutete, wobei die aus Stoffresten bestehende
Kugel am Ende des Stockes mit besonderer Liebe
bei den gräßlichsten Vorgängen verweilte,
„Bald von Henkers Rachehand
rollt sein Kopf hin in den Sand,
zuckt und lebt noch kurze Zeit,
wendet hin sich' nach der Seit..."
während dieser optischen Vorführung wurde der
jeweilige Inhalt des Gezeigten von der Drehorgelfrau
— Orgelinda genannt — mit heiserer Altstimme
bald in entrüstet bedrohlichem, bald in
rührend beklagendem Akzent gesungen. An
realistischen Einzelheiten wurde nicht gespart.
Der Gendarm — eine mit dem Blutbann ausgestattete
gewichtige Persönlichkeit — packt die
Mörderin am Arm, der Richter bricht den Stab,
der Henker schleppt die auf einem Stuhl Festgeschnallte
mit seinen Gesellen zum Schafott, wo
die herabfallenden Haarsträhnen, das aufspritzende
Blut, das rollende Haupt die Schaurigkeit
vollenden, in die sich der Vollzug der irdischen
Gerechtigkeit kleidet — kleiden muß, um seine
Autorität mit dem notwendigen vom Volk verlangten
metaphysischen Hintergrund auszustatten.
Die Morithat ist von den Straßen verschwunden
, das Leben ist damit um ein Stück echten
primitiven Theaters ärmer geworden. Aber der
Geist der Morithat — wenn man so sagen darf —
ist noch so lebendig wie das Bedürfnis nach ihr.
„Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil"
sagt Faust, und daß es bei Hinrichtungen, Kreuzigungen
und um brennende Scheiterhaufen dem
„Volk" von jeher am wohlsten war, bemerkt
Nietzsche wiederholt. Aber zum „Volk" zählen
wir alle, ob „Gebildete" oder „Ungebildete", und
wenn die Gespräche von Mord und Weltbrand
wie die Gespräche von Krieg und Kriegsgeschrei
längst aus einem behaglichen Stammtischvergnügen
zu bitterer Wirklichkeit geworden sind — der
Galgen, das Schafott, der elektrische Stuhl und
all die sonstigen freundlichen Dinge, mit denen
menschlicher Erfindungsgeist den Mitmenschen
den Weg zum Tode verkürzt und versüßt hat, sie
erzeugen heute noch selbst bei „aufgeklärten"
Menschet! jenes Gruseln, dessen Wurzel die
Tiefenpsychologen teils in der Angst um die stets
gefährdete Existenz, teils in einer Art „Katharsis
" suchen, einer wohltuenden Lösung seelischer
Verknotungen, die durch berechtigte oder nur
eingebildete Schuldgefühle entstanden sind. Man
tut dem Chor der antiken Tragödie kein Unrecht,
wenn man ihn in die Nähe der „Morithat" bringt.
Der „Unschuldige" kommt erst beim Anblick der
Sühne fremder Schuld zum echten Genuß seiner
Unschuld und zur Belohnung des oft unter Opfern
wohlbewahrten guten bürgerlichen Wandels. Die
Tellersammlerin der Morithat weiß das und
kennt die Leute, an die sie sich zuerst wenden
muß — das soeben beruhigte Gewissen zahlt
gerne. Und was die Tellersammlerin der Morithat
weiß, ist auch dem modernen surrealistischen
Bühnenbildner kein Geheimnis. Er kennt sein
Publikum, das von der Wissenschaft herkommt
und von der Aufklärung, und das den Handleserinnen
und Kartenschlägerinnen so gute Einnahmen
, und den Astrologen und Hellsehern ein
fast kanonisches Ansehen schenkt. Man sieht:
auch hier siegte der „Fortschritt". Die Haupterbschaft
aber traten Kino und Illustrierte an.
Alfred Holler
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üdjfter: 5a6 Dergeberu 7ot)ann fleter P)ebet
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