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Die Markgrafschaft
Nr. 12/6. Jahrgang Monatszeitschrift des Hebelbundes Dezember 1954
Wiav ober Wlätkm -
Darüber sind sich wohl alle Einsichtigen klar,
daß unser heute. üblicher Weihnachtsbetrieb mit
dem Sinn der Weihnacht nichts mehr gemein
hat; ja man ist versucht zu behaupten, daß das
Weihnachtsfest seines eigentlichen Sinnes entleert
und auf den Kopf gestellt ist. Denn wenn
irgend wann, so geht es gerade bei Weihnachten
um ein geschichtliches Ereignis, und zwar um
das allerwichtigste überhaupt, um eine Tatsache
und Wirklichkeit von einschneidendster Bedeutung
. Unser heutiges Weihnachtsfest aber trägt
das Gepräge des Unwirklichen, Unwahrscheinlichen
und darum der Wirkungslosigkeit; aus der
„Mär" ist ein Märlein geworden. Das kam mir so
deutlich zum Bewußtsein, als an einem der letzten
Weihnachtsgottesdienste unser Männerchor
ein Lied sang, in dem der unglückselige Dichterling
zwar von der Mär der Engel künden wollte,
weil er aber im Versmaß noch eine Silbe
benötigte, schrieb er ausgerechnet statt Mär
Märlein. Diese Deminutiv-Form ist aber höchst
gefährlich und gänzlich mißverständlich; denn
Märlein ist eben nicht die Verkleinerungsform
von Mär, sondern bedeutet etwas gänzlich anderes
, eine womöglich aus der heidnischen Welt
überbliebene Sage, deren Sinn wir kaum noch zu
rekonstruieren vermögen. Denn dann könnten ^
wir an Weihnachten ebenso gut Heinrich Heines
„Loreley" singen: „Ich weiß nicht, was soll es
bedeuten, daß ich so traurig bin, ein Märchen aus
uralten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem
Sinn" — und das würde sehr gut zutreffen auf
den modernen Menschen, der tatsächlich nichts
mehr mit Weihnachten anfangen kann, auch
wenn es ihm nicht aus dem Sinn kommt, aber er
kann auch keinen Sinn mehr hineinlegen, es ist
ih,m zum Märchen geworden, und darum umgibt
er es auch mit allem Firlefanz und Flitter des
märchenhaft Unwahrscheinlichen.
Dabei geht es aber nun doch um eine „Mär",
eine Kunde und Botschaft, die unmittelbar
lebensvoll den großen Einbruch Gottes auf Erden
bedeutet: „Euch ist heute der Heiland geboren,
welcher ist Christus, der Herr".
Heute aber scheint alles darauf abgesehen zu
sein, die elementare Wucht dieser Botschaft an
uns Menschen abzuschwächen und umzubiegen.
So ist schon die märchenhafte Gestalt gefährlich,
die bereits bei Hebel und seitdem bei den Alemannen
gar zu gern als eine Figur, die nicht
mehr identisch ist mit dem Jesuskind, zwischen
das Kind in der Krippe und uns eingeschoben
wird: „Das Wiehnechtschindli". In der „Mutter
am Christabend" soll dem schlafenden Kind der
fromme Zauber glaubhaft erscheinen, als habe
dies. „Wiehnechtschindli" alle die Gaben gebracht,
während am Schluß des Gedichts der „heilige
Christ" sichtlich vom „Wiehnechtschindli" abgerückt
wird. Bereits hier ist also Weihnachten das
Fest für die Kinder, denen die Mutter durch die
Zwischenfigur des bescherenden „Wiehnechts-
chindlis" die Liebe Gottes sinnfällig machen
will; noch sind freilich diese Gaben, die am
Christbaum hängen, sehr bescheiden und mit
pädagogischer Abzweekung ausgewählt. Aber
was ist heute daraus geworden? Ein ganzer
Märchenwald, für die Kinder gar nicht mehr
durchfindbar! Die Schaufenster in den Städten
sind märchenhaft und die Bescherungstische
überladen, und das alles dient nur zur Ablenkung
von der eigentlichen Weihnachtsmär, die
allerdings in ihrer ganzen Bedeutung nur von
den Erwachsenen erfaßt werden kann, aber
gerade sie ergötzen sich am frommen Zauber,
der ihnen auf dem Umweg über die Kinder wieder
zukommt — im Grunde doch eine sehr
eigensüchtige Angelegenheit. Wir können nur
warnen und sagen: Weg vom Märlein und hin
zur alten und doch „guten, neuen Mär".
Aber wir Erwachsenen machen uns gerade
beim Jahreswechsel noch einer anderen Verniedlichung
schuldig, wenn wir von den Jährlein
sprechen, die so schnell verfliegen. Das scheint
mir eine optische Täuschung zu sein: Nicht die
Jahre sind's, die dahineilen, sondern wir, die wir
uns mit zunehmendem Alter dieser Flüchtigkeit
immer mehr bewußt werden. Ein Jahr aber ist
immer bedeutungsschwer, erlebnisreich und
Wechsel voll; es birgt ein solch ungeheures
Gewicht von Ereignissen und Handlungen in
sich, daß es ihm ganz unmöglich ist, davonzuflattern
wie Wolleflöckchen im Wind. Im letzten
Grunde aber, so wehmütig wir von diesen uns
entrinnenden Jährlein zu sprechen pflegen,
geben wir uns doch gerne dieser Täuschung hin
aus dem Grund, weil jedes Jahr ein großes Pack
von Versäumnissen und verpaßten Gelegenheiten
wegnimmt. „Wir bringen unser Leben zu wie
ein Geschwätz" sagt der weise Psalmist — und
Geschwätz ist in jedem Fall versäumte Zeit,
abgesehen von den anderen Übeln, die es anzu-
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