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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1954-12/0004
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Die Markgrafschaft

richten imstande ist. Lassen wir doch unser
Schwätzen, das ja nur ein törichtes Dreinreden
ist in das Wort, das uns die Zeit und das Leben
zu sagen hat und ausrichten will, und hören
wir auf, mit der Ausrede der davonfliegenden
„Jährlein" unsere eigene Schuld am Verlust der
Zeit zu verniedlichen und zu bagatellisieren!

Und nehmen wir auch das neu heraufsteigende
Jahr 1955 nicht von vornherein und mit allzu
großer Gleichgültigkeit als „Jährlein" an in der
Kette der schon verflüchtigten, sondern ganz
bewußt als eine „gute, neue Mär", die uns allen
wieder viel Gewichtiges zu sagen hat.

Richard Nutzinger

3&t>ent6nadjt in ifimmaja Owzeba

Aus den russischen Tagebüchern 1 942 —1945

So sternenvoll ist diese Nacht über den unruhigen
Hügeln, wie du noch keine sahst. Die
Kälte zieht durch die Balkas, an deren Rändern
kleine Hütten, armselige Gebilde aus Lehm und
Stroh kauern, eine geduckte Herde grauer Tiere.
So kauern sie seit Jahrhunderten unter dem
ziehenden Wind der Steppe, im Schweigen der
erstarrten Winternacht, in der dumpfen Verlorenheit
einer Landschaft, die nicht wie die
unsere aus Wiesen und Feldern, Brücken und
Bäumen, Straßen und Flüssen besteht, aus Natur
und menschlichem Willen, sondern die besteht
aus der Raumlosigkeit des Ungestalteten, des
Ungemessenen und Unermeßlichen, aus dem
Urtierhaften, aus dem Rätsel der Welt.

So stehst du vor dem Dunklen und nie Erfahrenen
. So stehst du, und in deinem Helm
surrt der Wind, ein harter, unablässiger Wind,
und deine Erfahrenheit reicht nicht aus, die
hundert Schritte deines Bereiches zu wissen.
Und es ist dir bewußt, daß du nicht einmal hinreichst
, die Möglichkeiten des Urtierhaften zu
kennen. Niemand weiß sie, und niemand hat sie
alle erfahren. Jeder fürchtet sie. Das sind nicht
nur die heißeren Schreie, wenn die anderen
kommen, das ist nicht nur das Feuer, das auf
dich zuspringt wie die glühenden Augen reißender
Tiere. Das ist nicht nur die Angst, wenn die
Erde von den Einschlägen bebt, wenn dieses
ganze Urtier zittert und stöhnt. Es ist das
Wissen darum, daß alles um dich unerhört,
unerlöst ist, ohne Gnade, ohne Hoffnung auf
Gnade.

Droben kreisen die Sterne in dieser Nacht,
und bis der bleiche Morgen kommen wird und
sie verblassen werden über den stillen Gesichtern
derjenigen, für die sie in der nächsten
Nacht nicht mehr aus den dunklen Räumen des
Himmels auferstehen können, bis zum fahlen
Morgenlicht bist du allein. Und nicht nur allein
vor dem Drohenden, das rings um dich lauert,
vor dem Unbenannten, das keiner zu sagen weiß.
Allein bist du auch vor dir selbst, vor deiner
persönlichen Entscheidung, die keine ist, wenn
du sie nicht ehrlich treffen wirst, nicht aller
Ehren wert, nicht unwiderruflich. Du spürst in
dieser verlassenen Nacht, über der die Sterne
kreisen, dich selbst: wehe voll, heimwehvoll nach
Wärme, Licht, nach dem kleinen Raum, den eine
Kerze erhellt, nach dem unvergleichlichen Duft
von Tannenreis, nach dem Wunderbaren, das
deine Kindheit beschloß: nach einem einzigen

Mutter-Laut, der dich umschlösse wie ein warmes
Kleid. Über dieser Sehnsucht kreisen die
Sterne, unberührt von dem, was in dir zittert.
In diesem Heimweh trittst du hinaus wie über
den Rand der Welt. Das Dorf hinter dir heißt
Krasnaja Swesda, und das bedeutet: Roter Stern.
Noch nie hast du einen roten Stern gesehen.
Deine Sterne, die aus der fernen, durch unendliche
Räume von dir abgewendeten Kindheit
herüberleuchten, haben nichts Blutiges. Warmer
Goldglanz fällt dir in einem winzigen Scheinchen
aus der Erinnerung zu. Und das ist deine Entscheidung
: zu glauben, daß dieser milde Goldglanz
aus der Stube deines Kindseins herüberkommt
, daß aller Glanz der Sterne über dir sein
Licht erhält von jenem Stern, der über/ Bethlehem
leuchtete, in der Nacht des Kindes und der Hirten
. Dies ist eine unwiderrufliche Entscheidung
für den Glauben deiner Kindheit. Nicht daß du
nun das Dunkle begriffest, das das Drohende an
sich ist und das nichts anderes als Furchtbares
gebären kann. Aber dies erfährst du in einer
solchen Stunde, daß du nicht allein bist in der
dumpfen Verlorenheit, die dich in dieser Nacht
überkommt. Es gibt einen inneren Glanz, der
dich wärmt und der dir Licht gibt im Lichtlosen
der Zeit, da der Friede auf Erden ferner scheint
als je zuvor.

Was dich jetzt voller Wehmut berührt, ist
der Gedanke, daß du für jenen Glanz vielleicht
nicht mehr denen danken kannst, dir dir das
bereitet haben, was du in allen Wüsten der Welt
nicht mehr verlieren wirst, sofern du nur bereit
bist, den Glanz zu erwidern, wie du ihn Vater
und Mutter, den Geschwistern, und allen guten
Menschen erwidert hast. Niemals wirst du diese
Möglichkeit deines Daseins verbrauchen. Unvergänglich
bleibt das Licht der Krippe von Bethlehem
. Das weißt du nun, während du in der
Steppe des Unfriedens stehst. Und käme einer,
der vom Glanz des Himmels umgeben wäre
und sagen würde: fürchte dich nicht, so gingst
du hinüber in die Schlucht der Balka, um
dort das Kind zu finden und ihm die kargen
Gaben zu bringen, die dir heute noch belassen
sind. Und du würdest vor dem Kinde knien,
nicht anders als die alten Hirten deiner Krippe
zu Hause, wo jetzt, in dieser Stunde vielleicht,
eine Kerze entzündet wird für dich und alle, die
den Frieden des Kindes ersehnen als die einzige
Rettung der Welt.

L. Börsig


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