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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1955-01/0003
Nr. 1/7. Jahrgang

Die Markgrafschaft

Monatszeitschrift des Hebelbundes

Januar 1955

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Wir können wohl das neue Jahr und den
neuen Jahrgang unserer „Markgrafschaft" nicht
besser beginnen als mit einem Aufblick zu Albert
Schweitzer. Und wenn sich auch zu seinem
80. Geburtstag fast alle Tageszeitungen und Zeitschriften
und Illustrierte seiner erinnern, so hat
uns Hebelfeunden der Hebelpreisträger von 1951
doch wohl noch ein Besonderes zu bedeuten und
zu sagen, Schweitzer* kann ja mit dieser Vollendung
seines 80. Lebensjahres das Halbjahrhundertjubiläum
eines für ihn und ganz Europa
sehr wichtigen Gedenktages begehen, denn an
seinem 30. Geburtstag hat mit dem Entschluß,
als Urwalddoktor den Menschen im dunklen-
Erdteil zu helfen, die Entscheidung über sein
ferneres Leben sichtbare Gestalt und unbeirrbare
Gültigkeit gewonnen. Mit welch zäher Konsequenz
, mit welcher Unerbittlichkeit gegen sich
selbst und mit welchem Aufwand an Energie er
die Verwirklichung dieser seiner neuen Lebensbestimmung
verfolgt hat, ist nicht nur erstaunlich
, sondern geradezu übermenschlich. Denn die
für ihn'folgernden bitteren Notwendigkeiten, die
meisten seiner ihm liebgewordenen Ämter aufgeben
, sein. Orgelspiel einschränken, sich von
neuem auf die Schulbank setzen und studieren
zu müssen, bedeuteten für ihn nichts im Vergleich
zu den Schwierigkeiten, die er durch die
Mitteilung von seinem Entschluß bei seinen Verwandten
und liebsten Freunden aus dem Weg zu
räumen hatte. Von haßerfülltem Zürnen, von der
ernsthaften Beschwörung, doch von seinem wahnsinnigen
Vorhaben abzustehen, bis hin zum
bittersten Spott hatte er damals alle Widerwärtigkeiten
von Menschen auszukosten. Bei
einem solchen Gespräch mit einer älteren Dame
hielt ihr Schweitzer zu seiner Verteidigung das
Wort Goethes aus dem „Faust" entgegen: „Im
Anfang war die Tat". Allein die Dame entgegnete
ihm, dies Zitat habe heutzutage keine Gültigkeit
mehr, da wir in der Zeit der Propaganda stünden,
die jetzt die Mutter alles Geschehens sei, und
wenn er unbedingt1 etwas für1 diese Schwarzen in
Afrika tun wolle, so könne er dies am besten,
wenn er in Europa durch Vorträge für jene ärztliche
Missionstätigkeit werbe. Allein trotz aller
Gegenargumente, die man von allen Seiten gegen
seine Absicht ins Feld führte, blieb er unbeirrt
bei seinem Entschluß. „Das Größte tut nur, wer
nicht anders kann".

Aber jene alte Dame hat damals vor fünfzig
Jahren eine fast prophetische Wahrheit über

unsere Gegenwart ausgesprochen, wenn sie die
Zeit nennt, in der nicht die Tat, sondern die
Propaganda die Mutter alles Geschehens sei.
Und wahrlich jetzt in der Mitte dieses Jahrhunderts
erkennen wir rückblickend und erschauernd
, daß wir eine Zeit der Propaganda
erlebt haben, die aber dann immer stärker die
Trommel gerührt hat und zum Schlachtruf werden
mußte, zwei unselige Kriege hervorgerufen
und trostlose Trümmer hinterlassen hat. So ist
die Propaganda die Mutter eines unendlich traurigen
Geschehens geworden.

Aber sie ist auch oft genug die Mutter des
Nichtsgeschehens gewesen. Mit ihrem durchschlagenden
Wort hat sie die Menschen fasziniert
und klug die Tatsachen zu verschleiern gewußt,
daß nichts geschah; sie war die große Taschenspielerin
, die die Menschheit hinters Licht geführt
hat. Denn in ihrem ursprünglichen Sinn:
„Pro paganis" ist sie die üble Bauernfängerin,
die den einen Teil der Menschen für dumm hält
und den anderen dumm macht, und beides ist
vom Übel.

Und im stärksten Gegensatz zu aller Propaganda
und ohne ihre Begleitung ging ein Einzelner
und Einzigartiger still und gerade Und
unbeirrt seinen Weg, den der aufopfernden,
entsagungsvollen Tat — und siehe da, die
Menschheit horchte auf, und diese Tat wurde
zur Propaganda in einem ganz neuen Sinn: zu
einem Anruf auf unser Christsein und auf die
Verpflichtung, die wir dem dunkeln Erdteil
schuldig sind. Ein Wort dieses Mannes geht heute
beflügelt und mahnend von Mund zu Mund:
Ehrfurcht vor dem Leben. Und eine ganze Welt
blickt heute zu diesem Achtzigjährigen auf und
weiß sich von ihm irgendwie angesprochen, und
wir spüren die Wahrheit des Goethe-Wortes:
Im Anfang war die Tat!

Darum setzen wir an den Anfang unseres
neuen Jahres gerade für uns Hebelleute als neue
Losung, was ein anderer Großer unserer Zeit
gesagt hat: Leute, tut um Gottes willen etwas,
aber tut etwas Tapferes!

Denn gepriesen sei der 14. Januar 1905, da
zum Anfang des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts
der Propaganda und des unseligen
Blutvergießens und Niederbruchs, ein Mann sich
zur großen Tat des Heilens und Aufbauens entschlossen
hat.

Richard Nutzinger


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