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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1955-01/0004
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Die Markgrafschaft

(Sine ©tunbe mit Gilbert ©djtoeffeec

Im vergangenen Febrüar waren es 25 Jahre,
daß ich zum ersten Male mit Albert Schweitzer
zusammentraf, und trotz des zeitlichen Abstandes
ist mir jede Minute jener einstündigen Begegnung
mit dem großen Doktor in plastischer Erinnerung
geblieben. Starke Persönlichkeiten prägen
sich ja viel stärker und unauslöschlicher unserem
Gedächtnis ein als tausend alltägliche Menschen
— und ich möchte in meinem Leben diese eine
Stunde, und dann vor drei Jahren jenen Septembertag
in Günsbach nie vermissen.

Ich war damals Vikar in Freiburg und mein
Pfarrherr war ein Studienfreund Schweitzers in
Straßburg gewesen, und ich hatte an der Amtstätigkeit
meines Chefs, der in besonderer Liebe
gerade an den Minderwertigen hing und in Hilfsschule
und Kreispflegeanstalt am liebsten wirkte,
manchen Zug von Albert Schweitzer, von dem
er immer mit Hochachtung sprach, ablesen können
. Aus dieser alten Freundschaft heraus hatte
sich der Urwalddoktor bei meinem Chef angemeldet
mit der Bitte, ihm einen Begleiter zu
stellen, der ihn an die in Frage kommenden
Orgeln der evangelischen Kirchen Freiburgs
führen könne; da er jedoch nur zwei Stunden
Zeit dafür habe, möge man dafür Sorge tragen,
daß der Rundgang ohne Hindernisse vor sich
gehen könne. Ich instruierte also die Kirchendiener
und Organisten der beiden für ein Orgelkonzert
von Schweitzer in Betracht kommenden
Kirchen dahin, daß sie zu der und der Stunde —
es war um die Mittagszeit — sich an den Eingangspforten
einfinden sollten. Unglücklicherweise
hatte der D-Zug, mit dem der Doktor ankam
, eine halbe Stunde Verspätung. Der Bahnsteig
war bereits mit vielen auf ihn wartenden
Menschen besetzt, und ich hatte Not, mich zu
ihm durchzuwinden und mich als seinen Begleiter
vorzustellen. In drei Taxis ging es nun zur
nächstliegenden Kirche, aber da passierte schon
das erste Unglück. Der Organist stand allein da
und meldete, daß sich der Kirchendiener bereits
wieder samt seinem Kirchenschlüssel in seine
häuslichen Gemächer zurückgezogen habe, da
ihm das Warten bei der Kälte zu lange gegangen
sei. Es war jener bitterkalte Winter 1929. So
schnell mich meine Füße trugen, rannte ich in
die Wohnung des Siegristen, der sich eben mit
seiner Frau beim warmen Mittagessen gütlich
tat, und scheuchte ihn etwas unsanft vom Tisch
auf, indem ich ihn in vorwurfsvollem Tone frug,
ob er nicht gan2; bei Trost sei, den berühmten
und vielbeschäftigten Professor Schweitzer in der
Kälte warten zu lassen. So eilig ist wohl der
Kirchendiener nie wieder von seinem Daheim
in die Kirche gerannt wie damals, aber statt
eines strengen Verweises erhielt er von Albert
Schweitzer den freundlichen Gruß: „Armer Meß-
mer, jetzt habe ich Sie gewiß vom Mittagessen
mit Ihrer Frau wegholen müssen in die Kälte,
aber schließen Sie jetzt nur schnell die Kirche
auf, dann dürfen Sie gleich wieder heim zur
Mutter und zur Suppe".

Der, Siegrist stand wie überwältigt von so viel
Güte und wollte Entschuldigungen stammeln, die
ihm aber Schweitzer sofort abschnitt, und er ging
natürlich nicht gleich wieder heim zu seinem
Mahl und Gemahl, sondern sah diesen freundlichen
Mann mit Augen hoher Verehrung an,
mich aber, das Vikärlein, das ihn gescholten
hatte, mit dem Ausdruck tiefer Verachtung.

Diese Kirche — es war die Ludwigskirche —
war in jenem strengen Winter nicht in gottesdienstlichem
Gebrauch gewesen, da die Heizung
unzureichend war, und so schlug uns eine Grabeskälte
aus dem Kirchenraum entgegen, sq daß wir
Begleiter uns unwillkürlich fester in unsere
Mäntel einwickelten; Schweitzer aber, bei der
Orgel angekommen, legte seinen Mantel ab,
setzte sich auf die kalte Orgelbank, registrierte
und spielte auf den eisigen Tasten der Manuale
und schien gar nicht mehr aufhören zu wollen.
Trotz des meisterhaften Spiels hatten wir alle
den Wunsch auf baldige Beendigung, da uns
Nasen, Ohren und Füße einzufrieren drohten. Als
Schweitzer endlich die Orgelbank verließ und ich
ihm in den Mantel helfen wollte, winkte er ab:
„Herr Vikar, ich bin Urwalddoktor und allerhand
an Klima gewöhnt". Er bat den Organisten, der
nicht nur vor Kälte, sondern auch ob dieses Auftrages
schlotterte, ihm doch etwas auf der Orgel
vorzuspielen, und begab sich hinunter ins Kirchenschiff
, um sich da wieder auf eine der kalten
Bänke zu setzen urid dem Spiel zu lauschen.
Auch das schien uns eine Ewigkeit zu währen
in dem Todeshauch des winterlichen Kirchenraums
. Schließlich brach er auf, dankte dem
Orgelspieler und bat ihn, zur anderen Kirche
mitzufahren.

Draußen stellte er durch einen Blick auf seine
Uhr fest, daß ihm nur noch knapp eine Stunde
bis zur Abfahrt des Zuges und zur Besichtigung
der zweiten Orgel bleibe, und so schickte er seine
Begleitung — „Karawane" sagte er — voraus
zum Bahnhofrestaurant mit der Aufforderung,
dort derweilen zu Mittag zu essen und für ihn
selbst ein Menü zu bestellen, aber das billigste,
das auf der Karte sei, und schon schob er den
Organisten und mich in den Taxi, wo wir uns
niedersetzten, während er selbst einen Notsitz
herauszog, und ohne einen Widerspruch meinerseits
zu dulden, Platz nahm. „Herr Vikar, streiten
wir uns nicht um einen Autoplatz! Sagen Sie
mir dann, wenn wir am Ziel sind", erklärte er
und schloß die Augen. Wir beide im Fond des
Wagens wagten uns nicht zu rühren, um den
Professor nicht in seiner Überlegung zu stören,
denn offensichtlich ließ er den Klangkörper der
eben gehörten Orgel nochmals in sich nachklingen
.

An der zweiten Kirche — es war die Lutherkirche
, an der ich damals Vikar war — angelangt
, war Schweitzer mit elastischem Schwung
aus dem Wagen und mit eiligem Schritt auch
schon auf der Orgelempore. Der Organist an
dieser Kirche, übrigens ein sehr gewandter


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