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Die Markgrafschaft
beiden anderen wanden sich an ihren Kreuzen.
Der Einsame in der Mitte war still wie eine Bildsäule
. Der Kopf hing ihm vornüber. Hoffentlich
ist er tot oder bewußtlos, dachte Demetrius.
Lange stand er in den tragischen Anblick, versunken
. Der heiße Zorn, an dem er fast erstickt
war, hatte sich abgekühlt. Dieser einsame Mann
hatte sein Leben unnütz fortgeworfen. Sein kühner
Mut war umsonst gewesen. Der Tempel
würde weiter die Armen vom Lande betrügen,
die ihr Lamm opfern kamen. Herodes würde
weiter die Armen drangsalieren, wenn sie den
Reichen unbequem waren. Kaiphas würde fortfahren
, die Menschen zu verurteilen, die die
Götter nicht auf den Markt gezerrt zu sehen
wünschten. Pilatus würde Ungerechtigkeit üben
— und sich die Hände in einer silbenen Schale
waschen. Dieser Einsame hatte für seinen kurzen,
vergeblichen Kampf gegen die Gottlosigkeit
einen hohen Preis bezahlt. Und dennoch: er
hatte es ausgesprochen. Er hatte etwas getan! Bis
morgen würde niemand mehr daran denken, daß
er alles gewagt und das Leben verloren hatte.
Vielleicht war es besser, tot zu sein, als in einer
Welt zu leben, in der so etwas geschehen konnte.
Auch Demetrius empfand eine tiefe Einsamkeit.
Es war keine so große Volksmenge anwesend,
wie er erwartet hatte, und keine Unordnung —
vermutlich, weil sich überall Legionäre zeigten.
Diese standen nachlässig auf ihre Lanzen gelehnt,
als hätten keine Unruhen stattgefunden und als
würden auch keine befürchtet.
Demetrius trat in den äußersten Ring derv
Zuschauer. Nicht viele der Wohlhabenden, die
auf der Präfektur auffallend stark vertreten gewesen
, waren zugegen. Die meisten waren ärmlich
gekleidet. Viele weinten. Einige dicht verhüllte
Frauen kauerten in kleinen Gruppen zusammen
. Ihre Haltung verriet stumme, hoffnungslose
Trauer.
Demetrius bewegte sich langsam vorwärts,
um sich nach seinem Herrn umzuschauen. Ein
ihm bekannter Legionär gab ihm einen Wink, der
Kommandant befinde sich mit seinen Offizieren
auf der anderen Seite des Hügels, hinter den
Kreuzen.
,,Ich bringe ihm frisches Wasser", sagte Demetrius
, seinen Krug in die Höhe haltend. Der
Soldat lachte.
,,Gut, so kann er sich die Hände darin waschen
. Heute wird kein Wasser getrunken. Der
Statthalter hat ihnen einen Schlauch Wein
geschickt
,,Ist der Mann tot?" fragte Demetrius.
,,Nein — er hat eben noch etwas gesagt".
,,Was denn? Konntest du es verstehen?"
„Mich dürstet".
,,Hat man ihm Wasser gereicht?"
„Nein, sondern einen Schwamm mit Essig,
aber er wollte nicht davon trinken. Ich weiß
nicht, warum er dort hängt. Aber er ist kein
Feigling".
Demetrius blickte nicht mehr auf den Einsamen
, sondern ging auf einem weiten Umweg
nach der anderen Seite des Hügels. Marcellus,
Paulus und vier oder fünf andere lagen ausgestreckt
auf dem Boden. Ein lederner Würfelbecher
ging, nachlässig geschüttelt, von Hand zu
Hand. Im ersten Augenblick stieg heiße Empörung
in Demetrius auf. Es sah seinem Herrn
nicht ähnlich, so gefühllos zu sein. Ein anständiger
Mensch mußte schon sehr viel getrunken
haben, um sich unter diesen Umständen so
gleichgültig zu zeigen.
Demetrius beschloß, seinen Herrn zu fragen,
ob er etwas für ihn tun könne, und trat an die
Gruppe heran. Nach einer Weile sah Marcellus
trübe auf und winkte ihm. Die anderen setzten
das Würfelspiel fort.
„Hast du mir etwas zu sagen?" fragte Marcellus
mit belegter Stimme.
„Ich habe dir Wasser gebracht, Herr".
„Sehr gut. Stelle es hier nieder. Ich werde
bald davon trinken". Man reichte ihm den Würfelbecher
. Er schüttelte ihn gleichgültig. Die
Würfel rollten.
„Ein Glückstag für dich", grollte Paulus. „Das
erledigt mich". Er faltete die Hände hinter dem
Kopf. „Demetrius", sagte er und wies*mit einer
Bewegung auf einen zerknitterten braunen Mantel
, der dicht vor dem mittleren Kreuz lag.
„Bring mir dies, ich möchte es ansehen".
Demetrius holte ihm das Gewand. Paulus betrachtete
es mit müßigem Interesse.
„Nicht übel", bemerkte er, es auf Armeslänge
von sich haltend. „Auf dem Lande gewoben und
mit Walnußsaft gefärbt. Er braucht es nicht
mehr. Sagen wir, es sei mein. Was meinst du,
Tribun".
, „Warum dein?" gab Marcellus gleichgültig
zurück. „Wenn es etwas wert ist, so wollen wir
darum würfeln". — Er reichte Paulus den Würfelbecher
. „Die höchste Nummer gewinnt. Du
bist an der Reihe".
Jetzt hörte man im Norden den Donner grollen
, und eine wilde Flamme züngelte durch die
schwarzen Wolken. Paulus warf zweimal drei
Augen und sah besorgt zum Himmel auf.
„Nicht schwer zu überbieten", sagte der neben
ihm sitzende Vinitius. Er warf eine Vier und
eine Fünf. Der Becher machte die Runde ohne
einen besseren Wurf, bis er zu Marcellus kam.
„Zweimal sechs!" rief er. „Demetrius, nimm
das Gewand an dich".
„Soll ich auf dich warten, Herr?"
„Nein, hier ist nichts für dich zu tun. Geh
nach dem Prätorium zurück. Wir wollen morgen
frühzeitig aufbrechen". Marcellus sah nach dem
Himmel. „Paulus, geh herum und sieh nach, was
sie machen. Es gibt ein schweres Gewitter". Er
stand mühsam auf und schwankte; Demetrius
hätte ihm gern den Arm gereicht, um ihn zu
stützen, aber er fürchtete, Marcellus könne
empfindlich sein. Seine Entrüstung war verflogen
. Er begriff, daß sein Herr getrunken hatte,
weil er im normalen Gemütszustand diesen
schmählichen Auftrag nicht hätte ausführen können
. Ein ohrenzerreißender Donnerschlag er-
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