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Die Markgrafschaft
schlitterte das Stück Erdreich, auf dem sie standen
. Marcellus streckte die Hand aus und hielt
sich an dem mittleren Kreuz fest. Als er wieder
fest stand, hatte er Blut an der Hand. Er wischte
es an der Toga ab.
Ein wohlbeleibter Mann in einem kostbaren
schwarzen Kleid trat aus der Menge hervor und
pflanzte sich mit anmaßender Miene vor Marcellus
auf.
,,Weise diese Leute in ihre Schranken", rief
er zornig. „Sie sagen, der Gewittersturm sei ein
Gericht über uns".
Ein neuer, gewaltiger Donnerschlag folgte.
,,Vielleicht ist es das!" schrie Macellus zurück.
Der Dicke ballte die Faust.
„Es ist deine Pflicht, hier Ordnung zu halten!"
brüllte er.
„Soll ich dem Sturm Einhalt gebieten?" fragte
Marcellus.
„Die Gotteslästerung sollst du zum Schweigen
bringen! Sie rufen, dieser Galiläer sei Gottes
Sohn gewesen!"
„Und vielleicht war er es!" rief Marcellus. Er
suchte mit der Hand nach seinem Schwertgriff.
Der Mann zog sich zurück und murrte, der Statthalter
würde dies erfahren.
Als Demetrius um den Hügel herumging,
blieb er einen Augenblick stehen, um einen letzten
Blick auf den Einsamen an dem mittleren
Kreuz zu werfen. Er hatte den Kopf erhoben
und schaute in den schwarzen Himmel. Plötzlich
rang sich ein weithin schallender Schrei von ihm
los, als rufe er einen fernen Freund zu Hilfe.
Ein schlecht gekleideter, bärtiger Mann mittleren
Alters, anscheinend einer der ländlichen
Freunde des Galiläers, stürzte aus der Menge vor
und lief unter verzweifeltem Weinen den Abhang
hinunter. Demetrius packte ihn am Ärmel, als
er an ihm vorbeikam.
Der Mann antwortete nicht, riß sich los und
lief unter lautem, unverständlichem Wehklagen
weiter.
Jetzt blickte der sterbende Galiläer auf die
Menge unter ihm hinunter. Seine Lippen bewegten
sich. Seine Augen weilten bei den Menschen
mit dem gleichen Ausdruck tiefer Trauer wie
damals, als die Leute auf der Straße ihn zum
König ausrufen wollten. Wieder grollte dumpfer
Donner, und die Finsternis nahm zu.
Demetrius rollte das Gewand zusammen und
verbarg es unter seiner Tunika. Er preßte es
eng an sich, und diese Berührung linderte seine
Verzweiflung. Ob nicht Marcellus ihm das Gewand
überlassen könnte? Es wäre tröstlich, etwas
zu besitzen, was dieser mutige Mensch getragen
hatte. Er würde es als ein kostbares Erbe hochhalten
. Welch ein großes Erlebnis hätte es sein
müssen, diesen Mann zu kennen und in sein
Denken einzudringen! Nun keine Hoffnung mehr
bestand, seine Freundschaft zu erwerben, wäre
es ein bleibender Trost, sein Gewand bei sich zu
haben.
Mit feuchten Augen suchte er in der zunehmenden
Dunkelheit den Pfad abwärts; als er
zurückblickte, war der Hügel nicht mehr zu
sehen.
Tteuenbucg in htn ?eit hzn Keformation
Nach Maximilians Tode wurde dessen Enkel
Karl V. 1519 zum römischen Kaiser erwählt.
Schon mit sechs Jahren war er Herrscher des
niederländisch - burgundischen Reiches geworden
und mit 16 Jahren König von Spanien und
Neapel. Er entwickelte sich zum großen Herrscher
, ein Mann von eigenster Prägung. Es gab
in seinem strengen Leben außer Politik nur eine
große Leidenschaft: die Religion. Er sah als eine
seiner Lebensaufgaben die Vernichtung jeglicher
Ketzerei und die Beseitigung von Mißbräuchen
in der Kirche. Er war der leidenschaftliche Verfechter
des Katholizismus und — wurde der
politische Gegner des Papstes. Er erstrebte die
Zusammenfassung des christlichen Abendlandes
und — gelangte schon durch die Teilung seines
Gebietes mit seinem Bruder Ferdinand und dessen
Wahl zum deutschen Könige zur sicheren
Spaltung. Aus dem Gegensatz dieser Persönlichkeit
zu ihrer Zeit strahlte der Einfluß auf das
Schicksal der Stadt aus. Am 25. August 1520 erhielt
sie auch von ihm die Bestätigung aller
Rechte und Privilegien. Im September des Jahres
1523 kam der große Tag für Neuenburg, da die
Bürger sich zum Empfang des Kaisers in ihren
Mauern rüsten konnten. Es war kein Kleines für
diese kleine, merkwürdige Stadt, daß sie den
Kaiser empfangen konnte und daß er ihren Boden
betrat, den Mann, der ein Weltreich beherrschte
und diese Stadt nicht für zu gering hielt, ihr Tage
seines Lebens und Denkens zu widmen. Und doch
trug damals schon die Stadt Gedanken der Auflehnung
gegen das Wesen dieses strengen einsamen
Mannes in sich. Gelegentlich dieses Besuches
bestätigte er nochmals am 3. September
1523 der Stadt die Privilegien unter ausdrücklicher
Hervorhebung des Marktrechtes.
Beherrschten die Renaissance und der Humanismus
nur die oberen Schichten, so war die
Reformation eine Bewegung der Massen geworden
, getragen vom größten Teil des deutschen
Volkes. Sie war in ihrem Wesen nicht nur eine
Reaktion auf die Veräußerlichung des Glaubens
der alten Kirche, sondern ebenso eine Reaktion
auf die Herrschaft aristokratischer, ästhetischer
und nur vernunftbedingter rationalistischer Ideale.
Die Bürgerschaft Neuenbürgs hatte durch ihren
Kampf der Selbstbehauptung gegen die widrigen
Mächte der Preisgegebenheit wohl schön früher
als andere, in sicherer Geborgenheit lebende
Menschen, die Berechtigung der Freiheit des
Individuujns als Gemeinwesen in sich gefühlt
und erlebt. Sie war sicherlich ebenso bereit, diese
Freiheit des Individuums als Einzelmensch ihrem
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