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Die Markgrafschaft
sen. Sie hat mich beten gelehrt; sie hat mich
gelehrt an Gott zu glauben, auf Gott zu vertrauen
, an seine Allgegenwart denken". Gottvertrauen
und Glauben an die Allgegenwart Gottes
— das ist das mütterliche Erbteil!
Und wie entfaltet sich dieses Erbteil in seinem
dichterischen Geist. „Die duftende Blume des
Feldes verkündet uns deine Allmacht und Güte,
die alle morgen neu ist". „Der Himmel ist ein
großes Buch über die Allmacht und Güte Gottes,
und stehen viel bewährte Mittel drin gegen den
Aberglauben und die Sünde". „Gott wirkt zu
allen Zeiten und an allen Orten ohne Rast und
Wechsel, ungeteilt und ungeschwächt".
So kann er wünschen „viel Augen zum Sehen,
und viel Ohr für die neuen Töne und ein stilles
heiteres Herz, in dem sich der blaue Himmel und
die blütenreiche Erde spiegle". Das alles ist echte
lutherische Weltoffenheit, eine Offenheit für die
Schöpfung Gottes, wie sie aus manchem Psalm
an unser Ohr klingt und in manchem Wort
Luthers sich ausspricht: „Gottes göttliches Wesen
kann ganz und gar in allen Kreaturen und in
einer jeglichen besonderen sein, tiefer, innerlicher
, gegenwärtiger, denn die Kreatur sich
selbst ist... "
Es ist gute evangelische Überlieferung, die in
der Welt den Ausdruck göttlichen Lebens und
Wirkens faßt und daher Vertrauen zu dieser
Schöpfung hat. Die Welt ist in der Gegenwart
Gottes gehalten.
Es ist eine leider zu verbreitete Ansicht, als
spräche sich in dieser Offenheit Hebels zur
Schöpfung eine Art pantheistische Frömmigkeit
und ungebrochene Naturmystik aus. Das heißt
Hebel gründlich mißverstehen. Es ist nicht so,
daß Hebel Natur gleich Gott und Gott gleich
Natur setzt, also Gott in die Natur auflöse oder
die Natur zum Gott mache. Die Natur ist ihm
nicht Gott, sondern Zeichen der göttlichen
Schöpfermacht und Allgegenwart. Und es ist
außerdem ja nicht zu übersehen, daß Hebels
Frömmigkeit nicht in naturmystischen Stimmungen
sich bewegt, sondern immer wieder auf das
Sittliche hin drängt. Neben dem Schöpfungsglauben
steht die Forderung an das Gewissen, das
zur Entscheidung gerufen ist: „halt still und frog
di Gwisse z'erst".
Wer könnte die Anwendung dieser Gewissensreligion
in der Erzählung „Der Kommandant und
die badischen Jäger von Hersfeld" in einer sehr
ernsten Entscheidungssituation übersehen? Es ist
ja nicht eine verschwommene Sentimentalität,
die diesen Kommandanten zu einer Art Befehlsverweigerung
, Hersfeld plündern und verbrennen
zu lassen, bestimmt, sondern das Wissen um
Gottes Gebot. Gewissensreligion heißt ja nicht:
mein privates Gewissen ist meine Religion. Der
Ruf an das Gewissen ist der Anruf des göttlichen
Gebotes, das unser Gewissen bindet. Darin liegt
unsere Freiheit gegen menschlichen Befehl und
unsere Grenze gegen eigene Willkür. Und schließlich
sieht Hebel nicht in der Natur und in der
Humanität des guten Menschen, sondern in
Christus die reinste Ausprägung der göttlichen
Liebe: „Gott selbst hat aus ewiger Liebe und
Erbarmung dem menschlichen Geschlecht die
Erlösung durch Jesum Christum möglich gemacht
und angeboten allen, die durch ihn von der Sünde
frei und selig werden wollen". Das heißt doch
nicht mehr und nicht weniger, daß Mensch und
Natur, Schöpfung und Kreatur der Erlösung bedürftig
sind und nicht selbst Weg zur Wahrheit
und Freiheit sind. Schöpfungsglaube, Gewissensernst
und Christusglaube — das sind die Elemente
Hebelscher Frömmigkeit, und wir sehen
in ihnen das Erbteil seiner Heimat, das seine
Mutter dem Kinde ins Herz betete.
Lassen Sie mich aber noch auf eine weitere
Schicht in Hebels Christentum zu sprechen kommen
, die ihn mit einem Schlag mitten in unsere
religiöse Problematik stellt. Wir erfassen Hebels
religiöse Aussagen überhaupt erst dann richtig,
wenn wir aus seinen Briefen und einigen dichterischen
Äußerungen das verborgene Ringen um
seinen Gott zu spüren imstande sind. Der Glaube
an Gottes Gegenwart und seine weisen Wege ist
einem Herzen geschenkt worden, das tief in die
Hintergründe der Dinge und des Menschenwesens,
auch in das eigene, schaute — und oft davor
erzitterte. Ea ist reichlich naiv, in dem berühmten
Brief aus dem Jahre 1809, wo Hebel sich über
den Polytheismus ausläßt, eine Neigung zur
polytheistischen Religion zu sehen. Was hier aufklingt
, ist ein Protest gegen die Rationalisierung
Gottes: „Unser dermaliger philosophischer Gott
steht, fürchte ich, auf einem schwachen Grund,
nämlich auf einem Paragraphen, und seine Verehrer
sind vielleicht die törichtsten Götzendiener,
denn sie beten eine Definition an, und zwar eine
selbstgemachte". Zum andern ist es die Not des
Herzens, dem Gottes Wege zu hoch' sind und das
sich lieber an das Greifbare halten möchte, ohne
aber darin Halt finden zu können. Denn dieser
Griff nach den Göttern und Geistern in der Welt
ist ein Griff ins Leere. Hebel ahnt etwas von der
Fragwürdigkeit alles Seins, er weiß etwas von
der Eitelkeit aller Dinge. Zweimal im Jahre 1808
spricht er es aus: „Die Welt ist von gährenden
Wogen durchdrungen" und noch einmal: „Die
Welt ist mit Krämpfen und Wehen durchdrungen
". Die Ahnung von der Vergänglichkeit alles
Irdischen ist aber nicht das Resultat philosophischer
Weisheit, sondern gefüllt mit biblisch-
eschatologischer Sicht. Die Welt vergeht nicht
einfach, sondern geht ihrem Ende entgegen. Der
Wächter um Mitternacht ruft im Gedicht „Die
Vergänglichkeit", das wir jetzt im Auge haben,
,,Wacht auf! wacht auf, es kommt der Tag". Aber
der Tag, der jetzt angekündet wird, ist nicht
mehr der Tag, den der „Wächterruf" ankündet.
Jetzt braucht es „Ke Sunn derzue", der Himmel
„stoht im Blitz, und d'Welt im Glast". Es ist das
Ende, der Gerichtstag über die Welt und Völker
und über die Heimat. Wohl dem Menschen, der
in dieser Stunde gerüstet ist. Wir wissen aus
Traumaufzeichnungen, wie Hebel von Gedanken
des Gerichtes, der Hölle umgetrieben sein konnte.
„Ich sah etwas von der Hölle. Die Verdammten
lagen in der Gestalt heißer Fische und anderer
Seetiere in einem warmen Zimmer zwischen
Buchenblättern. Ich hauchte einen an, das tat
(Schluß S. 5)
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