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Die Markgrafschaft
Nr. 7/1955
Monatszeitschrift des Hebelbundes und des Schwarzwaldvereins
7. Jahrgang
(Smmal auefpannen
In den Kurorten ist Saison. Auf den Bundesstraßen
rollt der Strom der Feriengäste, hinter
denen sich die Türen der Büroräume, der Schulstuben
und Fabrikhallen geschlossen haben für
einige Tage, vielleicht auch für einige Wochen.
Einmal ausspannen, heißt die Devise. Und dies
erscheint gut und lobenswert. Wir wollen uns
abgewöhnen, jeden Satz mit dem Hinweis auf
die „Hast unserer Tage" zu beginnen. In diesem
Zusammenhang aber dürfen wir alle beglückwünschen
, die es sich erlauben können, einmal
sich selbst aus der Mühle des Alltags zu entlassen
und zu feiern. Zu wünschen bleibt allerdings
, daß dieses Feiern nicht zu einem Katzenjammer
führt, sondern zu Entdeckungen von
zweierlei Art: des menschlichen Innenraumes, zu
dem wir im Begriffe sind, alle Schlüssel zu verlieren
, und der Schönheit der Natur, dort, wo
sie noch unverfälscht und taufrisch wie am
ersten Tag das erregende Zeugnis ihres Schöpfers
darstellt.
Die Entdeckung des menschlichen Innenraumes
: dies erfordert Stille und Geduld. Sind
wir uns ehrlich und gestehen wir ein, daß wir in
der Bedrängnis, unser Soll an Arbeit, an Terminen
an Steuern, an dem Anteil des allgemeinen
Umtriebes zu erfüllen, langsam alles verschüttet
haben, was diesen unseren menschlichen
Innenraum ausmacht. Wir wissen es im Grunde
nur zu gut, daß uns von dort her nichts mehr
ruft, daß von dort nichts kommt als der kalte
Luftzug verlassenen Bühnenraumes. Wir spüren
manchmal auch, daß wir uns mehr und mehr
vom Akteur, vom handelnden Individuum, zum
betriebsamen technischen Personal degradiert
haben, das auf Anweisung arbeitet, ohne das
Stück zu kennen. Wir kennen unser eigenes
Stück nicht mehr. Unsere Rollenbücher haben
wir verloren, und dafür lesen wir jetzt den
Anzeigenteil der Boulevardblätter. Da9 ist das
wenig begeisternde Bild unserer Alltags-Situation
. Diesem Alltag sollten wir in den schönen
Ferientagen gründlich den Rücken kehren, und
wir sollten bewußt anfangen mit der Entdeckung
des menschlichen Innenraumes. Wäre da nicht
geeignet, einmal einen -Band Möricke oder
Mathias Claudius oder aber unseren Johann
Peter Hebel in die Hand zu nehmen und irgendwo
an einem Bächlein oder einem Waldrand
diese unvergleichlichen Gedichte sich vorzulesen,
Wort für Wort kostend, um ohne alle Unruhe zu
Ende kommen? Welch eine Fülle von Reichtum
öffnet sich uns! Und welch ein Gefühl
seltener Beglückung wird uns zuteil! Mit Staunen
und Freude werden wir feststellen, daß sich
bei uns die Verkrampfung löst, daß plötzlich
wieder ein Echo kommt, aus uns selbst nämlich.
Wir werden spüren, wie wir wieder ein Gefühl
für Welt und Menschsein bekommen. Das abgestandene
Bier unserer Tageslektüre mit den
Sensationsberichten schmeckt nicht mehr, und es
interessiert niemanden mehr, was die Kammerdiener
verkrachter Herren an Staatsgeheimnissen
publizieren. In einer solchen Stunde tauscht
niemand den echten Wein gegen das schale
Gesöff letztrangiger Lokale, in denen es nach
Zuhältern und billigen Mädchen riecht. An uns
allein liegt es, diese Stunde zu schaffen.
Und dann die zweite Entdeckung, die der
Naturschönheit, in der Ernstes und Heiteres
beschlossen ist. Diese Naturschönheit freilich entdecken
wir nicht, wenn wir mit knatternden
Motoren Langstreckenrekorde aufstellen wollen,
um dies dann Erholungsreise zu nennen. Hier
geht es vor allem nicht um Tempo. Wer sich
bewußt werden will, wie eine Blume sich entfaltet
oder gar wie ein Baum wächst, braucht
vorab Ruhe und Zeit. Wer da durch die Wälder
wandert und voller innerer Bereitschaft ist, dem
wird geholfen, wie er es sich nur wünscht. Und
wer dann an einem Kornfeld steht und itn Anblick
des sanft heranreifenden Brotes verweilt,
dem werden gute Gedanken geschenkt, eine
Medizin, die die Natur verschwenderisch, freilich
oft vergebens bietet, weil ihr geheimnisvolles
Heilkräutlein nicht mehr bekannt ist,
jenes Heilkräutlein nämlich, das uns ins Bewußtsein
bringt, was es ist um das Leben: Blüte und
Frucht, Werden und Vergehen im stillen Vollzug
unserer Bestimmung, die wir dem geheimnisvollen
Willen des Schöpfers unterordnen, um in
der größeren Ordnung, die nicht vergeht, Heimat
zu finden. Und da ist es auch, daß wir von selbst
jene unvergänglichen Verse Goethes auf die
Lippen bekommen, die von seiner Hand einmal
auf die Bretterwand einer Jagdhütte geschrieben
wurden:
Über allen Gipfeln
ist Ruh,
in allen Wipfeln
spürest du
kaum einen Hauch;
die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
ruhest du auch.
L. B.
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